Dresden, Bernd Gürtler

Geschichte geht oft tiefer als das bloße Auge reicht. Sehr wahrscheinlich sind Electra dann durch etwas mehr geprägt als die Jahre in der DDR, schon weil jedes Urmitglied bei Bandgründung eine Vorgeschichte mitbrachte. Gerade die Einzelbiographien verraten, was außerdem zu Buche schlägt. Die Stadt ihrer Herkunft, Dresden nämlich. Bandchef Bernd Aust, gebürtiger Dresdner in der dritten Generation, verkörpert nahezu exemplarisch eine Langzeiteigenheit der Elbmetropole.

Nicht erst seit Anbruch des Industriezeitalters gilt Dresden als Ort technischer Pioniertaten. Das europäische Porzellan, Spiegelreflexkamera, Fernsehbildröhre, der Tischrechner als Vorläufer des heutigen PC oder jüngst 3D-Bildschirm und E-Book, dies und manches mehr in Dresden entwickelt. Hand in Hand mit Erfindergeist und hoher Ingenieurskunst geht von jeher ein ebenso bedeutender wie ungemein facettenreicher Kulturbetrieb. Praktisch seit Menschengedenken gehört die Gegenwart von Museen, Galerien, Theater, Philharmonie, Ballett und Oper mehr oder weniger zur Alltagsnormalität. Längst geschieht der Genuss des reichhaltigen Angebots in der festen Überzeugung, dass das alles morgen auch noch da sein wird, egal wie es kommt. Ein deutlich anderes Lebensgefühl jedenfalls als im selbst noch zu DDR-Zeiten weltoffeneren und der Karriere zweifellos förderlichen Berlin. Auch die Gleichmacherei des Sozialismus, wo jeder mit muss, kann den Unterschied nicht ausmerzen.

So gesehen hätte Bernd Aust ebenso ein berühmter Handwerksmeister, ein genialer Tüftler werden können. Erst recht bei seiner familiären Prägung, der Vater war Hauptmechaniker bei der Schwebebahn in Dresden-Loschwitz, der ersten Bergschwebehahn der Welt. Beruflich tritt er zunächst in dieselben Fußstapfen und beginnt nach der Mittleren Reife bei VEB Feinmess auf der Kleiststrasse in Dresden-Trachenberge die Lehrausbildung zum Werkzeugmacher, eine Wahl ohne Reue nach wie vor. „Das ging mir von der Hand“, verrät Bernd Aust, den Facharbeiterabschluss besteht er mit Eins. Dummerweise gestaltet sich der Arbeitsalltag in einer sozialistischen Mangelwirtschaft beschwerlich. Geeignete Materialsorten sind oft nicht verfügbar, dann „mühte man sich fünf, sechs Wochen an einem Werkzeug, und beim ersten Schnitt brach es weg.“ Aber der Vater spielt auch Akkordeon für den Hausgebrauch. Bernd Aust bekommt Akkordeonunterricht, lernt beim Dresdner Jazzurgestein Friwi Sternberg Klarinette. Von daher kam eine Musikerkarriere genau so in Frage. Jedoch auf solider Grundlage, ein Studium an der Dresdner Hochschule für Musik Carl Maria von Weber wird ins Auge gefasst. Nach der Devise, entweder sie nehmen ihn, oder es wäre abschließend geklärt, dass er ungeeignet ist und `weiter mit der Feile am Schraubstock stehen muss.´ Bernd Aust hat Erfolg mit seiner Bewerbung und findet an der Bildungsstätte, benannt nach einem der wichtigsten Dresdner Musikschrittmacher zwischen Heinrich Schütz und Richard Wagner, den in der DDR und sogar deutschlandweit jahrelang einzigen Studiengang für Tanz- und Unterhaltungsmusik. Ein echter Glücksumstand, stellt sich heraus. `Ich sage immer, was ich mitgenommen habe: Zeit zum Üben, und man lernte andere Musiker kennen.´ Zusätzlich belegt Bernd Aust Kurse in Komposition und Instrumentenpädagogik. Sechs der acht Studienkollegen desselben Jahrgangs gründen im Mai 1969 Electra.

Konzentriert hatte sich die Ausbildung an der Musikhochschule auf das Jazzgenre, da deckte sich die Orientierung des Lehrkörpers mit den Vorlieben der meisten Studenten. Ins freie Musikerleben entlassen, konnten sie entweder als Begleitpersonal angesagter Schlagersänger anheuern, einen Großteil ihres Equipments der Startphase verdienten sich Electra auf Tournee in einem Frohsinnspaket um Conferencier und Entertainer Günthi Krause. Oder sie bespielten die Tanzsäle und Bars der Republik mit Coverversionen angloamerikanischer Hitsongs von Beatles über Beach Boys bis Rolling Stones und was westliche Ätherwellen sonst so an Begehrlichkeiten ins Land tragen. Ständig hieß es, auf der Hut zu sein vor staatlicher Kontrolle. Die Missachtung der 60/40-Proportion von Ostsongs und Westtiteln zog empfindliche Strafen nach sich. Das eine oder andere Mal erwischt es Electra, aber `wir saßen deshalb nicht verschüchtert in der Ecke. Wir haben Musik gemacht und gefeiert, und das war schön.´ Hochfliegende Pläne schmiedete sowieso niemand, ergänzt Bernd Aust. Beispielsweise `eine Platte zu produzieren, das gehörte nicht zu unseren Zielen.´ Als dann Pink Floyd, Emerson Lake & Palmer, Yes, Genesis oder Gentle Giant ständig komplexere Spielweisen vorgeben und ein kulturpolitisches Tauwetter in der DDR einheimische Rockproduktionen und also doch Schallplattenveröffentlichungen erlaubt, gehören Electra zu denen, die überhaupt imstande sind, wiederum die Vorlagen nachzuspielen. Dank der profunden Hochschulausbildung und einer gewissen Routine inzwischen. Sehr schnell folgt eigenes Material derselben Qualität, wo niemand mehr nach den Einflüssen fragt, sondern nur noch Electra erkennt. Die Publikumsreaktion lässt keine Zweifel. Bei der Bühnenpremiere des epischen `Tritt ein in den Dom´, neben `Das kommt, weil deine Seele brennt´ und `Der grüne Esel´, ihr Paradestück, blieben `die Leute wie angewurzelt stehen.´ Den anspruchsvolleren Rockformen zugewandt hätten sich Electra, sowie die beiden Artverwandten aus der Stadt, Lift und Stern Combo Meißen, weil der Westrundfunkempfang wegen Dresdens ungünstiger Lage im Elbtal alles andere als optimal war. Das fleißig zitierte Tal der Ahnungslosen, heißt es gewöhnlich, verstellte den Blick auf einen weiteren Horizont. Doch etwas anderes scheint der Fall. Eben weil für sie Westmusik nicht wie beispielsweise dem Ostberliner tagtäglich im günstig empfangbaren Westrundfunk begegnete, mussten sie das, was sie anderswo aufschnappten auf Westschallplatte kaufen. Sprich über den Schwarzmarkt besorgen, was bei Preisen von über einhundert Ostmark pro vinyle Langspielplatte ein teu-res Vergnügen war. Also kam nur das Beste vom Besten in Betracht. Rekapituliert man ihr Coversongrepertoire und vergleicht mit dem, was Ende der 60er, Anfang der 70er als Krone der Schöpfung galt, wussten sie sehr gut Bescheid.

Dass Jethro Tull auf ihrer Nachspielagenda landeten, verwundert kaum. Mit seiner Querflöte macht Ian Anderson ein Instrument im Rock salonfähig, das Bernd Aust neben Saxophon längst auch spielte und bereits von Anderson-Vorbild Roland Kirk kannte. Komplettaufführungen so raffinierter Jethro Tull-Konzeptalben wie `Thick As A Brick´ oder gar `A Passion Play´, spielten Electra vom Blatt. Die Notenpartituren hörten sie sich von den Originalschallplatten ab. Jeder in der Band schrieb die Stimme für sein Instrument selbst raus, das konnten sie ganz einfach.

Wer von der Schwerindustrieenklave Freital ins nahe Dresden wollte, konnte bis 1973 eine Straßenbahnlinie nutzen. Wolfgang Riedel, Jahrgang 1949 und gebürtiger Freitaler, bestieg das gelbe, quietschende Kastengefährt des Öfteren. Meist stand der Besuch einer kulturellen Dauerattraktion auf dem Programm. `Unsere Familie sah sich alles an, das Grüne Gewölbe, Verkehrsmuseum, die Rüstkammer. Nichts wurde ausgelassen.´ Ganz oben auf seiner persönlichen Favoritenliste, das Naturkundemuseum im Dresdner Zwinger. Vorübergehend will der engagierte Hobbyornithologe `Tierpräparator werden´, verwirft den Berufswunsch aber. Das Angebot der Volksmusikschule, Konzertgitarre zu lernen, klingt verlockender. Mit etwas Übung `konnte man Beatles-Songs aus dem Radio nachspielen.´ Der erste Bandbeitritt lässt nicht lange auf sich warten. Mit Vierzehn wollte er sich für sein `Jugendweihegeld eigentlich ein Fahrrad kaufen´, ersteht aber doch im Musikhaus Meinel in der Dresdner Neustadt `so eine elektrisch verstärkte, flache Halbresonanzgitarre, mit Vibratohebel! Das war die ganz hohe Schule.´ Als sich eindrucksvollere Fähigkeiten auf dem Bass abzeichnen, wechselt Wolfgang Riedel. Zu Electra findet er durch sein Studium an der Dresdner Musikhochschule.

Peter Ludewig ist ein ausgemachter Literaturliebhaber. `Der grüne Esel´, nach einer Christian Fürchtegott Gellert-Vorlage, geht auf ihn zurück. Auf seinen Textideen beruhen `Das kommt, weil deine Seele brennt´ sowie `Tritt ein in den Dom´, die Anregung lieferten Gedichte von Volker Braun und Alexander Blok. Er wird 1941 in Freital geboren. Seine Mutter, eine Lokalberühmtheit als jugendliche Tänzerin und Gelegenheitsmodell. Zwischen Zeitungskritiken und Fotos klebt im Familienalbum eine Postkarte, mit ihr als Werbeträger für Zahnpasta. Das Mundhygieneerzeugnis reiht sich ein in die Dresdner Erfindungen zwischen Mundwasser, Kondensmilch und Kaffeefiltertüte. Der musikalische Begleiter seiner Mutter bringt ihm Akkordeon bei. Schon als Kind besucht der langjährige Freund des Dresdner Malers Reinhard Sandner die Gemäldegalerie Alte Meister im Dresdner Zwinger, wann immer sich Gelegenheit bietet. Vorzugsweise allein, erwachsene Begleiter drängeln ihm zu sehr. `Das hieß immer, komm’ endlich. Ich musste mir das in Ruhe anschauen.´ Was er am liebsten sah? Die `großen, beeindruckenden Bilder. Religiöse Motive, Schlachtenszenen. Die dicken Weiber von Rubens interessierten uns Jungs natürlich auch.´ Seine Profikarriere beginnt Peter Ludewig als Tenor am Theater in Görlitz. An der Dresdner Musikhochschule studiert er Schlagzeug und knüpft die Fäden zur Electra-Gründung.

Sänger Stefan Trepte ist Jahrgang 1950 und kam im Alter von sechs Jahren aus dem sächsischen Biehla nach Radebeul. Nebenan in Dresden, verschafft ihm seine Mutter, Lehrerin von Beruf und gelegentliche Lautespielerin, vorrangig eindrucksvolle Musikerlebnisse. Die Liste ist lang. `Ich habe gesehen ‚Die Zauberflöte’, dreimal hintereinander, den ‚Freischütz’, ‚Wilhelm Tell’. Und Konzerte, im Steinsaal des Hygienemuseums Tschaikowskys ‚Sinfonie in B-Dur’, mit Swjatoslaw Richter am Flügel, persönlich! Habe ich noch eine Schallplatte, von meiner Mutter, zur Erinnerung an einen Konzertabend. Oder Operette, was ich an Operetten gesehen habe!´Seinen Electra-Einstand gab Stefan Trepte beim lange vor dem 1974er Debütalbum für den DDR-Rundfunk produzierten `Tritt ein in den Dom´.

Ihnen allen gemeinsam ist die lebhafte Erinnerung an das Dresden nach der Zerstörung durch Alliierte Luftstreitkräfte am 13. Februar 1945. Wie vielen, die Zeitzeuge des Infernos wurden, hat sich Peter Ludewig der `glutrote Nachthimmel´, den er aus dem Dachbodenfenster des Freitaler Elternhauses sah, unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt. Bernd Aust, geboren im Januar 1945 in Dresden-Bühlau, beschreibt den Anblick, der sich Heranwachsenden bot. `Es gab noch zwei Einkaufsstrassen, die Oschatzer und die Kesselsdorfer, weil dort noch Häuser standen. Die Innenstadt, da konnte die Straßenbahn fahren, der Fußweg war frei geräumt. Daneben Sandsteinquader aufgeschichtet, die verhindern sollten, das der Schutt nachrutschte. So war das Trümmerfeld begehbar gemacht. Dann die Geschichten meines Vaters, er half nach dem Bombenangriff, auf dem Altmarkt die Leichen zu verbrennen. Es sind dramatische Erinnerungen.´

Wen das nicht unberührt ließ, der ergriff die Gelegenheit, als sie sich bot. Aus Anlass ihres zehnten Gründungsjubiläums könnten sich Electra doch ordentlich ins Gespräch bringen, fand ihr Betreuer beim Komitee für Unterhaltungskunst. Das Album `Adaptionen´ von 1976, mit Rockbearbeitungen von Mozarts `Türkischer Marsch´ oder Chatschaturjans `Säbeltanz´, war ein Kassenknüller, aber selten im Radio gelaufen. `Electra 3´, eine Zusammenstellung einzelner Rundfunkproduktionen, darunter das von der offiziellen Kulturpolitik jahrelang ausgebremste `Tritt ein in den Dom´, sollte erst 1980 erscheinen. Die Zeit war reif für ein neues Projekt, etwas Besonderes sollte es allerdings sein. Sofort dachte Bernd Aust an ein Dresden-Thema. `Ich bin häufig in der Gemäldegalerie gewesen, malte als junger Mann selbst ein bisschen und kannte natürlich Raffaels ‚Sixtinische Madonna’.´ Als das Gemälde 1956 nach Dresden zurückkehrte, `sind wir selbstverständlich hingerannt´, erinnert sich Peter Ludewig. Und so entstand Electras gleichnamige Großkomposition für Rockband, Orchester und Chor, als ungewöhnliche Kunstbetrachtung und Hommage an die Heimatstadt. Gemessen in den gängigen Vinyleinheiten damals, wird das 1980 veröffent-lichte `Die Sixtinische Madonna´ Electras bestverkauftes Album.

Peter Ludewig und Wolfgang Riedel sind übrigens nie aus Freital weggezogen, Bernd Aust blieb zeitlebens in Dresden wohnen. Selbst zu DDR-Zeiten, als das ganz große Glück nur in Berlin zu liegen schien. `Ein guter Song´, sagt er, `bleibt ein guter Song. In Berlin konnte man sicher schneller mal einen schlechten Song unterbringen. Aber darum ging es uns nicht.´

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