Berlin, im März: Axel Prahl ist Jahrgang 1960. Sein Vorname erzählt die halbe Lebensgeschichte. In einem schmalen Zeitfenster wurden Kinder von ihren Eltern Axel genannt oder Uwe oder Frank. Als Kommissar im Tatort aus Münster trägt Axel Prahl den Namen Frank Thiel. Im Film „Halbe Treppe“ heißt er Uwe Kukowski. Die Generation Axel fällt durch ihre Unauffälligkeit auf. Als die Axels geboren wurden, lag der Krieg lange genug zurück, als dass er ihrer Kindheit noch etwas anhaben konnte. Ein ganzes Land hatten sie nie kennen gelernt, also machte ihnen das halbe weniger aus. Sie durften relativ wunschlos glücklich sein. Zur Wendezeit waren sie um die Dreißig und hatten beruflich zu tun. Von ihren Susannes sind die Axels längst geschieden. Sie haben wieder geheiratet, hören immer noch Neil Young und denken manchmal an den Tod. Es sieht so aus, als könne sie nichts aus der Ruhe bringen, aber das ist es ja. Die innere Unsicherheit hält sich gut versteckt.
„Eigentlich lebst du ständig in dem Bewusstsein, dass dir jederzeit ein Ziegelstein auf den Kopf fallen kann, und dann bist du weg vom Fenster.“ Als Axel Prahl das sagt, liegt ein rundes Dutzend Kippen im Aschenbecher auf dem Küchentisch. „Von hier auf jetzt kann es vorbei sein, was meines Erachtens nicht heißt, dass man jeden Tag so leben sollte, als sei es der letzte. Wäre mir zu strapaziös.“ Bei fünf Minuten pro Zigarette, die er aus irgendeinem Grund mit dem Herdanzünder befeuert, macht das eine Stunde Gesprächszeit. Anderthalb waren vereinbart, und wir haben noch nicht über „Willenbrock“ geredet, den neuen Spielfilm seines Freundes Andreas Dresen, in dem Prahl die Hauptrolle spielt. Prahl spricht über die Dinge des Lebens und die benötigen ihre Zeit.
Er erzählt, wie er aufgewachsen ist , in Neustadt an der Ostsee, seine Sommer am Strand, „eine wunderbare Kindheit“. Nächte mit Lagerfeuer, „Heart Of Gold“ und Persico. „Kennste nicht? Das war so’n Kirschlikör, ich weiß gar nicht, ob es den noch gibt.“ Er erinnert sich, wie er mal mit dem Schlauchboot rausgepaddelt war, das Boot kenterte und er mit letzter Kraft ans Ufer schwamm. Wie alle Muskeln brannten. Ein Moment der Angst, den er nie vergessen wird.
„Meine Mutter hat Verkäuferin gemacht, Porzellan, Schuhe und so. Sie war maßgeblich damit beschäftigt, für uns die Kohle ran zu bringen. Aber nicht nur das. Sie hat gemalt, Musik gemacht. Von ihr habe ich die musische Begabung.“ Wie jedem guten Jungen liegt Prahl die Mutter sehr am Herzen. Sein Stiefvater diente früher bei der Marine, als Obermaat auf einem U-Boot. Seit einiger Zeit dient er als Vermittler auf dem Arbeitsamt von Neustadt in Schleswig-Holstein. „Es ist der echte Horror, kann ich dir sagen, er hat schon Morddrohungen bekommen. Die Leute wollen Arbeit, aber es gibt nichts.“ Die Marine hat dort oben gerade sechzehn Standorte geschlossen.
„Insofern habe ich mit meinem Beruf tierisch Schwein gehabt.“ Trotzdem kann ihm dieser Beruf, den er sehr liebt, manchmal befremdlich vorkommen. „Wenn man den wirklichen Wert von Arbeit definiert, stellt man schnell fest, in welch einem Missverhältnis die Bezahlung meines Jobs, sagen wir mal als Filmpolizist, zu der Entlohnung eines richtigen Polizisten steht.“ Sein Stiefvater hatte ihm damals empfohlen, ein richtiger Polizist zu werden oder BGSler. Prahl hat dann aber zunächst Mathematik und Musik studiert. Im fünften Semester an der Pädagogischen Hochschule war für ihn Schluss. Es begann das, was er Selbstfindungsprozess nennt. Arbeit beim Gleisbau, als Bierfahrer, Kellner. Nach der Arbeit mit dem Fiat 500 runter nach St. Pauli; Musik hören, abhängen, Kraut rauchen.
„Eine Freundin aus meiner Kieler WG hat gesagt, du blödelst hier so viel rum, werde doch Schauspieler.“ Er wurde sofort angenommen. Nach der Schauspielschule ging er für sechs Jahre ins Engagement an die Schleswig-Holsteinischen Landesbühnen.Axel Prahl spielte im Weihnachtsmärchen und gern auch einen Ober. „Das waren zwar lauter kleine Rollen, aber irgendwie habe ich es immer geschafft, einen Szenenapplaus mitzunehmen.“ So etwas verlernt man nicht, zumindest nicht, was den Beruf angeht.
Im Privatleben sieht das mit dem Beifall schon anders aus. Seine erste Ehe ging schief. Prahl erwähnt seine Töchter, Mascha und Saskia, sie sind sechzehn und achtzehn. Er will nicht weiter über sie reden, sagt nur, wie er sich einmal darüber geärgert habe, als sie in einem Artikel Scheidungskinder genannt wurden. Anfang der neunziger Jahre ist er von der Ostsee nach Berlin umgezogen, allein. „Ich habe mich in eine Flut von Ungewissheiten fallen lassen. Nach drei Monaten hatte ich die Schnauze voll. Nirgendwo ist man einsamer als in so einer riesengroßen Stadt, wo man tausende von Menschen trifft, die man vom Blick her total sympathisch findet, aber nie kennen lernt.“ Berlin hatte nicht unbedingt auf ihn gewartet. Wer an der Küste groß geworden ist, wird die Sehnsucht nach dem Meer nicht los. Der Boden unter seinen Füßen wankte. „An manchen Tagen bin ich auf allen Vieren die Treppe hoch.“
Im weitesten Sinne spricht Axel Prahl also doch über Willenbrock. Denn es sind die Dinge des Lebens, die für diesen Bernd Willenbrock, einen Autoverkäufer in Magdeburg, mit Eigenheim und Nebenfrau, auf einen Schlag auseinander fallen. Seine Sicherheiten lösen sich auf. Er verliert seine Liebe, seine Geliebte, seinen Pragmatismus. Alles wegen eines blöden Zufalls, wie er sich einredet. Russische Diebe hatten ihn und seine Frau brutal überfallen. Fortan quält sie die Angst, sie können nicht mehr schlafen. Nun nützt auch die Alarmanlage nichts mehr. Axel Prahl spielt einen Menschen, der die Ausmaße seines Unglückes erst begreift, als alles zu spät ist. Die letzte Klappe zu „Willenbrock“ steht in Prahls Küche auf dem Fensterbrett. „Die hat Andy mir vor kurzem geschenkt, da war ich sehr gerührt.“
Dresen und Prahl haben bei diesem Film nach einem Roman von Christoph Hein zum fünften Mal gemeinsam gearbeitet. Auch beim nächsten Projekt ist Prahl dabei. „Andy dachte zwar, er könne mal einen Film ohne mich machen, aber…“ Mehr möchte er nicht sagen. Sie sind eine künstlerische Symbiose eingegangen. In der Filmgeschichte hat das schon wunderbare Resultate gezeitigt. Fellini hat einige seiner schönsten Filme mit Marcello Mastroianni gedreht. Zum Begräbnis des Schauspielers spielte die Kapelle eine Melodie aus „Achteinhalb“. Axel Prahl ist Dresens Mastroianni. „Ich hoffe mal“, sagt Prahl, „wir werden jetzt für immer und ewig zusammenarbeiten. Er kann mich ganz anders anfassen, kann mich in eine Richtung bringen, die ich von mir nicht kenne.“ Vielleicht stehen bei Prahl später mal die „17 Hippies“ an der Grube.
Dresen hatte ihn im Grips-Theater entdeckt, der Jugendbühne von Berlin, zu dessen Ensemble Prahl eine Zeit lang gehörte. „Es war Liebe auf den ersten Blick“, sagt Prahl. „Du triffst jemanden und glaubst, ihn schon lange zu kennen. So ein Gefühl war das bei Andy.“ Es wäre kein Wunder, wenn er ein Bild von Andy im Portmonee hätte. Sie haben sich viel zu verdanken. Draußen brettert eine Straßenbahn vorbei, die jetzt Metrotram genannt werden will. Das ist der Fortschritt von Berlin. Axel Prahlwohnt seit 1992 in der Greifswalder Straße, nach vorne raus. Im Treppenhaus riecht es nach Bratkartoffeln. Er lebt am Prenzlauer Berg, aber nicht auf dem Spielplatz der Prominenten. Zuerst war das eine WG“, sagt er. „Ich hab‘ sie alle ausgesessen.“ Sein Lachen klingt, als wehte es über die Mauer eines Lungensanatoriums.
Überhaupt ist der geschriebene Prahl nur der halbe Mensch. Man muss hören, wie er schnauft, Luft zieht, hüstelt und ständig die Tempi, Tonlagen und Idiome wechselt. Er kann Berlinern; das hat er geerbt, sein leiblicher Vater war kurz vor dem Mauerbau aus Ost-Berlin in den Norden gekommen. Er kann den Fischkopp und natürlich kann er hochdeutsch. Er zieht alle Register. Er ist Schauspieler, ein großartiger noch dazu. Ein Schauspieler braucht nur sich und einen Zuschauer. „Letztes Jahr hab ick ja ooch noch Theater jespielt neben die Filmerei“, sagt er und erzählt, wie er im polnischen Opole von der Bühne gefallen ist. Die Leute haben sehr gelacht, weil sie dachten, das gehöre zum Stück. Axel Prahl hat seinen Szenenapplaus mitgenommen. Dann ging’s in die Klinik. Einmal ist ganz kurz seine Frau Pauline in der Zimmertür zu sehen. Sie grüßt mit einem Blick.
Es ist leicht, mit Axel Prahl ins Gespräch zu kommen. Es ist schwerer herauszufinden. Ihm fällt immer wieder etwas ein. Eine Geschichte, die noch zu erzählen wäre, oder, dass er Hunger hat. „Ich mache mir rasch ein Brötchen, wenn du auch eins magst?“ Auf Socken und mit einer blauen Strickmütze auf dem Kopf, „ist gerade so ein Tick von mir“, tänzelt er im blauen Jeanshemd durch die blau gestrichene Küche. Ein Stillleben ohne Stille. In vierzig Filmen hat Prahl in den letzten zehn Jahren gespielt. Seine Rollen wurden größer. Die Filmpreise, die er erhielt, wichtiger. Als er in „Halbe Treppe“ den absoluten Ostler abgegeben hatte, hielten ihn fast alle für einen absoluten Ostler. Ein größeres Kompliment für sich und seine Arbeit könne er sich nicht vorstellen, sagt er. Bei ihm entwickeln sich die Figuren oft im Spiel, während der Szene. Prahl kann gut zuhören und beobachten. „Das Unwiederbringliche entsteht beim Improvisieren.“ Der Ostler in ihm entsteht am Imbiss in Frankfurt an der Oder, auf der Polizeiwache in Rostock, im Magdeburger Autohaus.
„Beim Jan Joseph Liefers war das genau umgekehrt“, sagt Axel Prahl. Liefers ist sein Partner im Tatort. „Bei dem haben sie immer gedacht, dass er aus dem Westen kommt. Ich finde das Gitarre gespielt und gesungen hat, ausgerechnet Impuls zu nennen. Im Osten hießen solche Gruppen Dialog und Prinzip. Prahl kann noch eine Strophe auswendig: „Zeitmaß maßt mir Zeiten zu, die mir zu zeitig sind, maßvoll erscheine ich zeitgerecht, jederzeit ist nicht meine Zeit.“ Interessante These. „Na ja“, sagt er, „war schon sehr ambitioniert“. Ihren ersten Auftritt hatte die Band im Unfallkrankenhaus.
Über Musik könnte man mit ihm ewig reden. Manchmal spielt Prahl für Freunde seine Songs. „So Richtung Jack Johnson, falls dir das was sagt.“ Bald sind drei Stunden um, über seinen Film haben wir noch immer nicht richtig gesprochen. Bei den Dreharbeiten durfte er mit dem Hubschrauber fliegen, erzählt Axel Prahl. „Du schwebst auf der Stelle, hast so ein leicht mulmiges Gefühl. Plötzlich kippst du nach vorn. Dann fängst du dich wieder.“ Mehr kann man über das Leben nicht wissen.
„Letztes Jahr hab ick ja ooch noch Theater jespielt“, sagt er und erzählt, wie er von der Bühne gefallen ist. Die Leute haben sehr gelacht. Sie dachten, das gehöre zum Stück.