Erstmals leibhaftig begegnet ist mir Uschi Brüning am 21. Oktober 1976, in Polen. Allherbstlich pilgerten wir DDR-Musikfreaks zum Warschauer Jazz Jamboree. 1976 spielten dort Muddy Waters, der Father of Blues, der Big-Band-Papst Gil Evans und der King of Swing Benny Goodman, um nur die USStars zu nennen. In solcher Nachbarschaft wirkten Brüning & Co. solide. Ich sympathisierte, trotz Uschis kaum verzeihlicher Vergangenheit: Einst hatte sie Schlager gesungen.
Vier Wochen später bebte die DDR. Wolf Biermann wurde ausgebürgert, begleitet von staatlichen Hetzkommentaren und dem Applaus willfähriger »Kulturschaffender unserer Republik«. Unerhörterweise regte sich Widerstand. Die besten DDR-Schriftsteller protestierten, auch namhafte Schauspieler und Jazzer, die fortan Heldenstatus genossen: Klaus Lenz, Ulrich Gumpert, Andreas Altenfelder, Ernst-Ludwig Petrowsky, Uschi Brüning. Jazz war Freiheit, sie hatten moralisch bestanden.
Jetzt erscheint So wie ich, Uschi Brünings Autobiografie.
»Am liebsten würde ich erzählen, mein Vater war Orgelspieler in Harlem und meine Mutter Gospelsängerin, und ich sang schon als Kind mit ihr zusammen im Gospelchor. Aber so war es nicht.« In Leipzig kommt Uschi zur Welt, 1947, hart nach dem Krieg. Der Vater, Kraftfahrer, verdrückt sich alsbald. Die Mutter arbeitet als Kaltmamsell in der Zoo-Gaststätte. Aus einer früheren Beziehung stammt Tochter Inge. Die »Villa Bröckelputz« in der Marthastraße bietet zwei Zimmer und Gemeinschaftsklo auf halber Treppe.
Uschi ist Schlüsselkind, ihr Spielplatz Leipzigs Trümmerwelt. Ein Entblößer lockt sie mit Zuckerzeug in einen Hausflur. Sie erzählt es der Mutter. Die will für Aufsicht sorgen und gibt ihre Töchter in ein katholisches Kinderheim. »Dort untergebracht zu werden fand ich nur furchtbar.« Mehrfach büxt Uschi aus. Nach zwei Jahren darf sie wieder heim. Und singt, inspiriert von Radio Luxemburg.
Am 6. Dezember 1960 debütiert Jung-Uschi vor Werktätigen des VEB Galvanotechnik Leipzig mit Connie Francis’ Hit Die Liebe ist ein seltsames Spiel. Ein West-Schlager, doch sie bekommt einen Buchpreis. Mit 17 singt sie in der Amateurband Studio Team, die an Wochenenden »im Umkreis von hundert Kilometern« sächsische Tanzsäle beschallt. »Zur Schule kam ich manchmal übermüdet und mit Restfahne. « Uschi schafft das Abitur, erhält jedoch mangels Klavierspiels und musiktheoretischer Bildung keine Zulassung zum Zwickauer Konservatorium. Also wird sie – was sonst? – Gerichtssekretär. Wir überspringen Konflikte mit der sozialistischen Rechtsprechung und den Leipziger Beat-Aufstand von 1965. Im DDR-mondänen Ring-Café sehen wir Uschi wieder. Schwarzmähnig und hornbebrillt wie Nana Mouskouri betört sie kapitalistische Messebesucher mit Summertime und These Boots Are Made For Walking. »Danach mussten wir umgehend (…) durch den Personaleingang verschwinden, um bloß nicht mit westlichen Gästen in Kontakt zu kommen. « Es wird Herbst 1969. Gerichtssekretär Brüning wälzt Akten, da klingelt das Telefon. Gott ruft an, aus Berlin. »Hier ist olle Lenz. Ich hab gehört, du sollst ganz gut sein. Willst du bei mir einsteigen?« Saxofonist Conny Körner mufft, Pianist Uli Gumpert erscheint verkatert. Erstmals erleidet die sächsische Autodidaktin die Selbst-Herrlichkeit studierter Hauptstadt-Jazzer. Immerhin, Lenz heuert sie an, für 80 Mark pro Konzert. Adieu, Kreisgericht Leipzig und Studio Team. Die Karriere beginnt.
Es beginnt auch die Ära Honecker. Der SEDKronprinz stürzt 1971 Walter Ulbricht und gibt den Jugendfreund. Männliches Haar darf wallen, Westmusik wird nicht länger denunziert. Ulrich Plenzdorf – schon Ende dreißig, doch nun hippieesk bemähnt – schreibt das Drama der Epoche: Die neuen Leiden des jungen W. Darin schwärmt Werthers Wiedergänger, der Lehrling Edgar Wibeau, von einer Berliner Offenbarung: »Old Lenz und Uschi Brüning! Wenn die Frau anfing, ging ich immer kaputt. Ich glaube, sie ist nicht schlechter als Ella Fitzgerald oder eine. Sie hätte alles von mir haben können, wenn sie da vorn stand mit ihrer großen Brille und sich langsam in die Truppe einsang …«
Was sang sie denn? Soul bei Lenz, Edelchansons bei Günther Fischer, dem popkulturellen Hansdampf der Republik. Der Saxofonist Fischer wirkte als Filmkomponist bis Hollywood, er orchestrierte den größten Star der DDR: Uschi Brünings Idol Manfred Krug. Diesem Schauspiel-Titanen, der auch zu jazzen beliebte, wurde sie künstlerisch zugeführt. Sein Gruß lautete: Tag, Renate. »Was ich nicht wusste: Er sagte zu jeder Frau Renate.« Der Ego-Manne lernte rasch, wie diese Dame hieß und dass sie, ohne Show, sängerisch mit ihm konkurrierte. Auch anzügliche Scherze hatten zu unterbleiben.
Ein Mann war ganz anders: der Saxofonist Ernst-Ludwig Petrowsky. Mit einem Knopf fing alles an, in der Garderobe des Steintor-Varietés zu Halle. »Sehr leise, fast verlegen fragte mich Luten (…): ›Könnten Sie mir bitte an meinem Jackett einen Knopf annähen?‹ Er sagte tatsächlich ›Sie‹, obwohl wir uns in der Band alle duzten. Er tat es aus Respekt vor mir, meiner Stimme und meiner Art zu singen, wie er mir später sagte.« Seit viereinhalb Jahrzehnten sind Uschi und Luten privat und künstlerisch ein Paar. Das Buch weitet sich zur Doppelbiografie. Petrowsky, 1934 geboren, stammt aus Güstrow und aus bürgerlichem Milieu. Der Saxofon-Anarch zog die Lied-Sängerin ins Offene der improvisierten Musik. Sie merkte: »Wer nur Stücke singt, bleibt stehen.« Ihre melodische Heimat gab sie deshalb nicht auf. Dann folgte Luten, freigeistig bratzend und tutend wie der gemeinsame Hausgott Ornette Coleman. Die virtuose Melange dokumentiert das Album Ornette et cetera (2010).
Nach Biermanns Rauswurf verließen viele Künstler die DDR, 1977 Klaus Lenz und Manfred Krug. Auch Brüning und Petrowsky erwogen zu gehen. Sie blieben, aus Verwurzelung und weil sie im Westen gewiss niemandem fehlten. »Ich habe Angst vor Verlusten«, schreibt Uschi Brüning. »Ich hänge an Menschen, die ich liebe oder gernhabe, ich hänge an meinem Publikum.« Aber Brüning & Petrowsky konzertierten drüben, sogar in Indien. Nach der Wende war der Exoten-Bonus aufgebraucht. Die Mauer fiel, die Einheit zog neue Gräben zwischen Ost und West. In der üppigen Jazz-Abteilung des Berliner Kulturkaufhauses Dussmann hat weder Brüning noch Petrowsky ein Fach.
Viele Menschen berührte Auserwählt, Uschi Brünings Duo-CD mit dem greisen Manfred Krug (2014). Im Jahr darauf folgte ihr delikates Solo-Album So wie ich, ein reifer Liederzyklus, samtjazzig begleitet. Hier seien zwei wildere Platten empfohlen. Auf Swinging Ballads (2005) beorgelt Uli Gumpert Uschi Brünings Hauch und Rauch derart beseelt, als hätte Fleischer Gumpert nie das Freejazz-Hackebeil geschwungen. 2016 erschien (gleichfalls bei Buschfunk) Uschi Brüning und Engerling. Das Live-Album, aufgenommen im Dresdner Jazzklub Tonne, bietet die Soul-Glanznummern Compared to What, Black Coffee und Stormy Monday Blues, auch Alexandras Schmonzette Zigeunerjunge, verblüffenderweise swingend wie Van Morrisons Moondance. Petrowsky bläst in Hochform – zum letzten Mal. Der ostdeutsche Doyen des Jazz kann nicht mehr spielen. Seit 2017 liegt er siech, infiziert mit einem Krankenhaus-Keim.
So wie ich trägt eine Widmung: »Für Luten, meine Liebe«. Die Milde des schön bebilderten Buchs erstaunt. Es schmäht keinen Zeitgenossen, auch nicht das vergangene Land, sofern es Heimat war. Enge, Dummheit und Schikane nervten, der Stasi-Staat kriegt sein Fett. Beklagt wird die jugoslawische Schnulzeuse Ljubka Dimitrovska – leider nicht wegen ihrer Kunst, sondern weil sie Wimperntusche auf Uschis Jackett kippte. Doch dann erschüttert ein Geständnis.
Liebe Uschi Brüning, warum haben Sie Ihre Unterschrift gegen Wolf Biermanns Ausbürgerung stillschweigend zurückgezogen?
Ich kannte Biermann kaum. Er war für mich der mutige Mann, der in der DDR gegen den Stachel löckte. Mich empörte das Unrecht des Rauswurfs. Ich hab voller Überzeugung unterschrieben. Aber dann …
Kam die Angst, mit Gänsehaut. Mein Beruf, meine alte Mutti … Es folgte Druck, ich widerrief. Das ist unehrenhaft und mir peinlich, aber da ich’s nun mal gemacht habe, muss ich es ja nicht verbergen.
Uschi Brüning ist ein warmer, humoriger Mensch ohne Allüren und Pomp. Gibt es eine zweite Sängerin mit so vielgestaltigem Repertoire? Sie steht gar zu ihrem Jugendschwarm Caterina Valente; ihre Fixsterne bleiben Ella Fitzgerald und Aretha Franklin. Klassik? Sei ihr bürgerlich fremd. Demnächst interpretiert sie Billie Holiday, nur begleitet von Bass und Drums. Zur Buchpremiere in der Berliner Kulturbrauerei sang sie auch Dein Name, ihr seit 1972 immer wieder gewandeltes Lebenslied. Reifes Fanvolk drängte an die Rampe, mit Blumen. Jugend fehlte keineswegs, doch Uschi Brüning resümiert mit leisem Leipziger Sound: Heutzutage singt man für Menschen, die mit einem alt geworden sind. Ach, erwachsen.
Uschi Brüning (mit Krista Maria Schädlich): So wie ich. Ullstein, Berlin 2019, 272 Seiten, 20 Euro