Die Verabredung mit Gisela May dauert 62 Minuten. Nein, nicht das Treffen mit ihr: 62 Minuten lang erörtern wir die Frage, ob nicht zum 85. Geburtstag ein Gespräch über ihr Leben schön wäre. Gisela May lacht leicht missvergnügt in das Telefon und sagt: „Ah, na klar, ein Artikel zum 85., damit auch noch der Letzte erfährt, wie alt ich werde. Glauben Sie, dass so ein Datum ein Vergnügen ist, ein Grund zu feiern?“ Dann sagt sie Sätze wie: „Ein Interview für eine Tageszeitung, ich bitte Sie, da soll mein Leben rein? Ich habe ein Buch geschrieben und schon da fehlt viel. Wie viel Platz haben Sie denn?“ Manches klingt auch unglaubwürdig: „Ich bin an mir nicht interessiert.“ Dann überlegt sie, ob sie denn über Inge Kellers 85. etwas gelesen habe, der Geburtstag gehe dem ihren stets nur wenige Monate voraus . Elektronische Archive sind schnell befragt, ja, auch Inge Keller wurde gefeiert. „Und, was steht da?“, erkundigt sich Gisela May. „Dass sie die große alte Dame des Theaters ist?“ Tatsächlich, genau diese Formulierung. „Ha, sag ich doch. Und über mich heißt es dann, die große alte Dame des politischen Chansons! Dabei kann ich viel mehr als singen. Glauben Sie mir, so etwas brauche ich nicht mehr. Wer mich kennt, weiß, dass ich die Courage gespielt, weltweit Brecht gesungen habe. Wer mich nicht kennt, will das auch nicht wissen.“
Sie wirkt überraschend störrisch. Ich kannte sie nur gesprächig. Gelegentlich rief sie in der Redaktion an und beklagte sich über Texte, die ihr missraten schienen, aber nicht, ohne ihren Lieblings-Theaterkritiker zu loben, diesen jungen. Natürlich liest sie die Zeitung, deren Chefredakteur ihr erster Mann einst war. Manchmal begegneten wir uns in Theaterpausen, und sie kannte sich immer so unverschämt gut aus. Einmal staunte sie über eine ihr unbekannte Darstellerin und sagte: „Schlimm, oder – was man alles nicht weiß, wen man alles nicht kennt!“ Ja, schön aber auch, wenn man in dem Alter solche Sorgen hat. Ansonsten erinnert sich Gisela May an Namen von Menschen aus 85 Jahren Leben, egal, ob 1954 getroffen oder vorgestern.
Wir wissen nun, dass sie auf Texte über vergangene Verdienste keinen gesteigerten Wert legt, wir könnten über etwas anderes reden, die Hürden des Alters vielleicht, wobei sie ja noch dieses sagenhafte Gedächtnis hat … Oh oh, ganz falsche Formulierung. „Noch“ darf man nicht sagen, das ist ihr Hasswort. Weil es auf die Gebrechlichkeit hinweist, weil dieses noch schon die Vermutung in sich trägt, dass es bald auch mit dem guten Gedächtnis vorbei sein könnte. Und so nähern wir uns langsam dem eigentlichen Grund ihrer Ablehnung: Gisela May will nicht jammern. „Aber wenn man kaum noch Angebote hat, kommt schnell Jammerei dabei heraus, schrecklich. Ich weiß, es ist unnatürlich, aber mir reicht es nicht, in Pantoffeln vor dem Fernseher zu sitzen. Ich konnte alte Leute noch nie leiden. Und jetzt bin ich selbst alt … Trotzdem gehöre ich auf die Bühne.“ Sie hätte gern noch mal schöne Rollen. Sie will arbeiten. Kann sich nicht mal in Memoiren flüchten, weil es die schon gibt („Es wechseln die Zeiten“). So wurde Gisela May zur Drehbuchautorin und sucht nun einen Produzenten, am liebsten wäre ihr Regina Ziegler. Genau, darüber könnten wir sprechen, vielleicht würde jemand auf dieses Drehbuch aufmerksam. Und schon sind wir verabredet.
Gisela May wohnt der Adresse nach in der Friedrichstraße, tatsächlich liegt ihr Block parallel zur Friedrichstraße, sehr ruhig und mit Parkblick. Hier bezog sie 1961 eine Wohnung mit vier eher kleinen Zimmern in einem unherrschaftlichen Nachkriegsbau. Berliner Ensemble, Deutsches Theater, Metropol („Hello Dolly“) – viele ihrer Bühnen erreichte sie zu Fuß. Zuerst wohnte sie hier mit ihrem Ehemann, dem Journalisten und Schriftsteller Georg Honigmann, dann mit dem Philosophen Wolfgang Harich, jetzt mit ihren vier Katzen. Sie sieht aus wie immer mit Lidstrich und Pony, ist heiter und hellwach, hält sich sehr gerade und nicht etwa wackelig. Es geht ihr gut, oder? Ja, klar, sie würde sich ohnehin nie beklagen. Was nicht heißt, dass sie wunschlos wäre. Bis vor Kurzem fuhr sie ja noch überall selbst mit dem Auto hin, das Fahrrad im Heck. Aber seit einer verpfuschten Augenoperation vor zwei Jahren geht das nicht mehr. Seitdem muss sie Bücher im Laden nach Schriftgröße und Kontrast aussuchen statt nach Inhalt. „Was glauben Sie, was da alles angeboten wird, sogar Braun auf Grau, eine Rücksichtslosigkeit! Warum kann man nicht auch einen Teil Ihrer Zeitung in größerer Schrift drucken? Nicht nur ich wäre dankbar!“
Dann kommt Gisela May bald auf ihr Drehbuch zu sprechen. Es handelt von der Unbeherrschbarkeit der Technik, von einer Gattin, die kein Handy bedienen kann, von Managern mit Sehnsucht nach ihrem alten einfachen Leben und einem Opel. Gisela May soll jetzt dafür ein Exposé schreiben, was ihr außerordentlich missfällt: „Wer soll denn in einer Kurzzusammenfassung den Witz der Dialoge erkennen? Aber um den geht es doch.“
Sie spielt ein bisschen daraus vor, und das ist wirklich komisch. Sie erzählt, wie sehr sie Handy-Telefonierer hasst, „diese Einarmigen, die nur Banalitäten absondern und sonst nichts wahrnehmen. Die zu Boden schauen und keine Leute sehen – das bezeichne ich als unmenschlich.“ Sie ist eine genaue Beobachterin, hat sich das angewöhnt für die Anlage von Rollen. Sie könne ja Rollen in jedem denkbaren Dialekt übernehmen, sagt sie und fällt ins Bayerische, Ostpreußische, Hessische, und dass sie sächseln und berlinern kann, versteht sich von selbst. Große Liederabende gibt sie dagegen nicht mehr, singt nur noch einige wenige Lieder. Sie wird doch nicht ihren über Jahrzehnte angehäuften Ruhm als bedeutendste Brecht/Weill-Interpretin aufs Spiel setzen wegen einer nun langsam nachlassenden Stimmkraft.
Sie weiß, was sie dieser Stimme verdankt – die beförderte ihre Star-Werdung erheblich. Schon ab den 1960er-Jahren konnte sie als Diseuse die Welt bereisen, hatte große Auftritte nicht nur in der Berliner Philharmonie, auch an der Mailänder Scala und in der New Yorker Carnegie Hall. Für sie war die Grenze immer durchlässig und auf den auswärtigen Plakaten stand nie DDR. Das konnte sie der Künstleragentur ausreden – es hätte eh keiner verstanden. Wenigstens erwartet heute keiner mehr, dass sie sich für dieses Privileg verteidigt. Dass sie eine überzeugte Linke war, auch DDR-konform, stand nie außer Frage. Unkritisch war sie nicht. In allen schwierigen Zeiten hielt sie zu Wolfgang Harich, der als Dissident acht Jahre im Zuchthaus hatte verbringen müssen – allein für seine politische Überzeugung. Sie ist bis heute sicher, dass nicht das System des Sozialismus falsch war, sondern deren kranke Auswüchse. Auf die Frage, wer sie sein wollte, wäre sie nicht Gisela May, antwortete sie einmal: „Die Katze von Gisela May“. Das klingt nicht nach mangelndem Selbstvertrauen. In künstlerischen wie in politischen Dingen war sie stets mit sich im Reinen. Privat ist die viel Geliebte nicht ganz so sicher, welches die glücklichmachende Lebensform ist. Sie hat Freunde, und wünschte sich dennoch manchmal „einen verlässlichen Arm zum Einhaken“. Es gibt Tage, da hat sie keinen, mit dem sie spricht. Andererseits, mit jemandem eine Wohnung zu teilen, eine Ehe länger als zehn Jahre durchzuhalten, findet sie auch undenkbar: „Der Alltag erstickt die Liebe.“ In ihrem letzten Urlaub – niemals zwei Mal in denselben Ort! – mit Studiosus hat sie die schweigenden alten Ehepaare bei Tisch um nichts beneidet.
Sicher, lieber wäre sie nicht alt. Fühlt sich ja auch nicht so, sondern ein paar Jahrzehnte jünger. Ein frisches Angebot könnte das Gefühl noch verstärken.