Interview mit Wladimir Kaminer

MAX Flensburg, Alexej Kinder - 18.10.2007

Interviewer: In „Helden des Alltags“ haben Sie geschrieben: „… eine richtig süße Lüge ist nicht weniger wertvoll als die Wahrheit“. Werden Ihrer Ansicht nach, Ihre Geschichten von der deutschen Gesellschaft als eine wertvolle Wahrheit oder eher als „richtig süße Lüge“ aufgenommen?

Kaminer: Kommt darauf an! Egal, ob die wahren Geschichten… also meine Erfahrung zeigt, dass die wahren Geschichten immer als Lüge aufgenommen werden und die Lügen als wahre Geschichten. Wenn ich irgendwas zusammenspinne, dann fragen die Leute gar nicht nach, sondern nehmen das einfach so auf wie das ist. Oder umgekehrt; übrigens, wenn die Deutschen bei sich selbst solche Geschichten wie „ potjomkischen (oder auch potemkische) Dörfer“ z.B. gar nicht, aber wenn das in Russland passiert, dann lachen sie sich schlapp über ein nachgebautes Paris in der Steppe, aber hier – wo war das noch mal, ich glaube in Wismar wegen dieses Gipfeltreffens als in Heiligendamm die Präsidenten sich versammelten – wurden die Frauen von mehreren Präsidenten nach Wismar gefahren und dafür haben sie dort überall die Erdgeschosse noch mal angemalt, also alles was man aus dem Auto sehen kann von diesen Häusern wurde noch mal, noch frisch gestrichener, als der Rest der Stadt.

Interviewer: Ist das Spiel mit „Wahrheit“ und „süßer Lüge“ das Erfolgsgeheimnis Ihrer Texte und Geschichten? Werden genau deswegen Ihre Bücher gelesen?

Kaminer: Klar! Wie soll man… man kann das Unermessliche nicht erfassen. Das wirkliche, das reale Leben… hat keinen Anfang, kein Ende; das ist in meinen Augen eine Ewigkeit. Wobei wir nur eine kurze Zeit haben um diese Ewigkeit einmal anzutasten und dann verschwinden wir schon; also um diese Ewigkeit irgendwie literarisch zu erfassen – ein Anfang und ein Ende – dieser meiner eigenen Geschichte zu geben, muss ich mit diesem Stoff manchmal auch hart verfahren, natürlich. Das was Du als Übertreibungen oder Lügen bezeichnest, das sind Dramen…

Interviewer: (berichtigt): süße Lügen…

Kaminer: …ja, süße Lügen… das sind Dramen, die ich in meine wahren Geschichten setze, sonst verfließt sie einfach in Tausende von Teilen; und damit sie sichtbar wird, muss man sie eben nach den Gesetzen der Literatur biegen, damit sie einen Einstieg und einen Abbremser und einen Inhalt in der Mitte hat, um sich nicht zu verzetteln, genau genommen… braucht man diese „süßen Lügen“. Um sich nicht zu verzetteln…

Einwurf: Aber der Humor ist dabei ausschlaggebend, oder?

Kaminer: …der ergibt sich, weil das Leben in seinem Kern tragisch ist… ergibt jedes Antasten dieses Lebens Komik. Wie immer, ja?! Das Gegenteil wird geboren… genau wie wenn die Endlichkeit die Unendlichkeit trifft, ergibt sich Komik… aus jeder solcher Begegnungen ergeben sich komische Momente. Wäre das Leben in seinem Kern komisch, dann hätte ich nur traurige Geschichten geschrieben (lacht).

Einwurf: Es muss wohl immer ein „contrair“, einen Gegensatz, geben?! Kaminer: …ist auch so! Ich glaube das ist einfach ein Gesetz der „Weltraumphysik“…

Einwurf: Kosmonauten…

Kaminer: …genau! Die Kosmonautenarithmetik!

Interviewer: Sie möchten, dass die Leute hier (in Deutschland) aus Ihrer Hand etwas über „die Nachbarn im Osten“ erfahren, machen aber die Völkerverständigung und den Kulturaustausch nicht zu den höchsten Zielen in Ihren Leben. Meine Frage, Hr. Kaminer, zielt auf die Parallelgesellschaft. Finden Sie, dass über das Thema „Parallelgesellschaft“ in Deutschland viel zu oft nur gesprochen wird? Muss man – und vor allem kann man – überhaupt was (ver-)ändern?

Kaminer: Es hat sich so ergeben, dass wir… dass ich mit meinen Kollegen – vor allem durch unsere Tanzveranstaltung, durch die Russendisko und durch unsere Tätigkeit als Plattenfirma, da wir hier osteuropäische Musik gesellschaftsfähig gemacht haben – es hat sich so ergeben, dass wir in diese „Völkerverständigungskiste“ gepackt wurden. Inwiefern das jedem einzelnen wichtig ist, das kann ich sehr schwer einschätzen. Mir persönlich z.B. ist das, jetzt als Mensch, nicht wichtig. Ich sehe das nur als politisches Kapital, das ausgeschlachtet wird von verschiedenen politischen Kräften, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Ich rege mich nicht auf, wenn die CDU bei uns die ganze Stadt mit Plakaten beklebt wo Handschellen abgebildet sind und mit solchen Sprüchen wie „Kriminelle Ausländer – Raus!“, wo dann jeder natürlich ein Komma zwischen „Krimineller“ und „Ausländer“ setzt und denkt „sie müssen alle raus hier!“… und ich bleibe dann (lacht). Diese Völkerverständigung, zu der wir, wie ich finde, enorm beigetragen haben, allein durch unsere bloße Existenz und unserer Tätigkeit… unseren vielschichtigen Tätigkeiten… sie ist so nebenbei entstanden und wunderbar, kann man nur begrüßen… Ich glaube solche Dinge, die müssen einfach behauptet werden! Du kannst es nicht zu deinem Lebensziel machen, irgendwelche Vorurteile zu bekämpfen; das entwickelt sich von alleine, indem man einfach – am eigenen Beispiel: das Gegenteil darstellt vom Klischee…

Interviewer: Wie Sie vielleicht wissen fand im August ’07 – in Berlin – eine Ausstellung mit dem Titelthema: „Gebrochenes Schweigen“ statt. Es hatte zum Ziel die Geschichte der Russlanddeutschen darzustellen.

Würden Sie sagen, dass Sie – durch ihr Schreiben – ein Teil dieser Geschichte sind? Würden Sie sich ansonsten ungern in diese Schublade stecken? Schließlich kommen Sie ja aus der ehemaligen Sowjetunion und sind jüdischer Abstammung. Es gibt sogar Kritiken, die behaupten, Sie hätten mit anderen Russlanddeutschen nichts gemein.. Kaminer: Ich habe ein paar Freunde, die Russlanddeutsche sind. Z.B. mein Internetdesigner, der diese Anmerkung geschrieben hat, dass wir nicht mit Fragen zum Thema „Völkerverständigung“ (lacht dabei) belästigt werden sollten. Er ist ein Russlanddeutscher. Also mir persönlich – ich darf doch ehrlich sein – mir persönlich – anders herum – ich kann die Menschen nicht auf Nationalitäten reduzieren. Ich werde natürlich oft, gerade zu solchen Themen, befragt… „Wer kommt zu Ihnen in die Disko? Sind das Russen oder Deutsche? Wer liest Ihre Bücher…?“ als ob ich bei jedem mit der Taschenlampe stehe, oder bei uns an der Disko am Eingang stehe und jeden frage: „Wer bist du, Mensch?“. Zu uns kommen jede Menge Leute, manche werden auch wieder rausgetragen; für uns ist es nur wichtig, dass das sympathische und anständige Leute sind, dass sie sich gut benehmen. Die Nationen – ich glaube, dass die Leute viel mehr Gemeinsamkeiten haben, als Dinge durch die sie sich unterscheiden – diese Nationen sind aus meiner Sicht auch ein politisches Kapital, das hat nicht wirklich mit der Natur der Menschen etwas zu tun… das haben sich irgendwelche Generäle ausgedacht, in jedem Land, zu ihrem eigenen Zweck – in Deutschland haben sie diese „deutsche Nation“ ausgedacht damit sie möglichst viele Leute in Reih und Glied aufstellen können um sie in den Krieg zu schicken um eben ihre – durchaus privaten Interessen – damit durchzusetzen. In Russland – ich finde – gleichzeitig hatte man diese Geschichte wo jede Menge Leute zu jeder Zeit unterwegs waren auf der Suche nach einem besseren, glücklichen Leben; wenn man die russische Geschichte nimmt, alle diese Pervoprohodzi (russ. = „Entdecker“ oder „Pioniere“ – besser aber: „Entdecker und/oder Wegweiser“), seien das Kosaken in Sibirien oder im Kaukasus oder im Süden, im Norden, überall; das waren Menschen, die vom Staat weggelaufen sind auf der Suche nach einem besseren Leben. Dann hat der Staat sie eingeholt, mit der Armee, und hat diese Leute versklavt im Grunde genommen und dann später in seiner Konzeption – der russische Staat, Romanow-Dynastie – sie haben aus diesen Leuten Helden gemacht: „diese Menschen haben in unserem Auftrag, für unser Land, nach Bodenschätzen gesucht“ z.B. In Wirklichkeit wollten diese Menschen nur eins: wollten weg von dieser Stadt! Die Deutschen kamen nach Russland! Genau die gleiche Geschichte, ja auf der Suche nach einem besseren glücklichen Leben, wurden versklavt, wurden mit vielen Versprechungen dann gelockt, dann versklavt – zuerst von einem, dann von einem anderen Regime – diese Geschichten wiederholen sich ständig mit sehr vielen Gruppen. Es gibt – ich kenne keine einzige Nation oder Religion, die einem anderen, einem humanitären Zweck dienen würde; also die Idee von Nation und Religion. Selbst beim Buddhismus bin ich mir nicht sicher; ob sie tatsächlich so harmlos sind (lachen).

Interviewer: Wird eine Verfilmung eines Ihrer Bücher (z.B. „Russendisko“) angestrebt? Schließlich findet man weder im Internet noch in anderen Medien konkrete Informationen darüber.

Kaminer: Ja, absolut! Und zwar sind wir schon soweit, dass wir spätestens nächstes Jahr im Frühling mit den Dreharbeiten beginnen und für die Massenszenen, glaube ich, brauchen wir noch viel mehr Einwanderung!

Interviewer: Welches Buch ist somit in Planung? Kaminer: „Russendisko“ wird verfilmt! Die Finanzierung steht schon; wir haben auch das Geld einer Koproduktion mit Deutschland und Frankreich. Einen großen Film. Ich bin gespannt… Interviewer: Dürfen wir Ihre Biographie bzw. andere Interviews als Stütze für einen Bericht über Sie auf unserer Homepage (www.EastTalk.de) benutzen? Kaminer: Meinetwegen könnt ihr alles verwenden… Aber ich warne euch, denn alle diese Biographien stimmen nicht! Ich habe irgendwann mal festgestellt, dass fast alles, was über mich im Internet zu lesen ist nicht stimmt. Dann hat mir neulich jemand gesagt: „aber das ist doch auf deiner Seite auch so geschrieben…“, und tatsächlich habe ich das weggenommen. Da stand auch, dass ich seit 1990 mit meiner Frau und zwei Kindern in Berlin wohne. Das stimmt natürlich alles nicht! Wir haben uns erst 1995 kennen gelernt, und auch als was davor und danach… und ich habe tatsächlich angefangen eine Biographie zu schreiben, und das ist schon ziemlich lang jetzt auf dieser Seite: russentext.de. Aber ich bin noch immer bei der Kindheit (lachen). Einwurf: An das woran man sich erinnern kann… Kaminer: Es geht dort um mein Geburtshaus. Um das Krankenhaus. Das hat übrigens den Namen eines… das war ein Russlanddeutscher. Alle Apotheker waren Deutsche und Grauermann hat sich entwickelt – seine Familie zumindest – das waren Ärzte und er war ein sehr berühmter Arzt; nachdem ist das Krankenhaus benannt worden in dem ich auf die Welt kam. Darum geht es da auf dieser Seite. Einwurf: Bis zum Bücherregal erst einmal. Kaminer: Ja, bis zum Bücherregal, genau! Bis dahin… Bis zum Telefonbuch. Bis zur ersten Krankheit. Interviewer: Hr. Kaminer, dann möchte ich mich herzlich bei Ihnen für das Interview bedanken. Kaminer: Ich danke!

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