Wladimir Kaminer, Autor, Discjockey und Popstar der jungen Berliner Hauptstadt-Kultur, hat Mut: Am vorigen Wochenende wollte er ausprobieren, ob seine Russendisko auch Feriengäste in Westerland in Wallung bringt. Eine Herausforderung. Das Journal war dabei.
Das Treffen mit Wladimir Kaminer auf Sylt gestaltet sich zunächst kompliziert. Am Sonnabend vormittag um halb elf meldet sich nach langem Läuten eine Stimme offenkundig aus dem Tiefschlaf. „Können Sie mich in einer Stunde noch mal anrufen?“ fragt er. Klar doch. Eine Stunde später wird gerade das Frühstück vorbereitet. „Wenn Sie mich in einer halben Stunde noch mal anrufen?“ Um Viertel nach zwölf ist er unterwegs mit seinem Sylter Veranstalter. „Rufen Sie mich doch in einer Viertelstunde noch mal an“, schlägt er vor. Nach 40 Minuten und weiteren Telefonaten biegt ein stoppelhaariger Mann in die Strandpromenade und ruft strahlend: „Sehen Sie! Wir haben uns getroffen!“ Das Gepräch selbst ist ganz einfach: Er spricht, und ich höre zu. Er hat sehr schöne grün-braune Augen und erzählt so wunderliche Geschichten mit diesem weichen russischen Akzent, daß man stundenlang nur dasitzen und ihm beim Reden zugucken könnte. Es geht um sein neues Buch „Karaoke“, in dem er vom Soundtrack seiner Jugend erzählt: eine Zeitreise zurück in die Sowjetunion der 70er und 80er, in der Musik – abseits vom offiziellen Wohlfühl-Pop – immer die Suche nach einem besonderen Lebensgefühl und nach den richtigen Freunden war. Bis Kaminer nach Berlin übersiedelte und 1999 mit seinem Freund Jurij Gurzhy im „Kaffee Burger“ einen Tanzabend mit russischer Musik veranstaltete – die Geburtsstunde der „Russendisko“. Selten haben Quereinsteiger eine solche Welle losgetreten. Die Russendisko expandiert: Inzwischen sind ihre Gründer mit ihrem Tanzmusikprogramm schon in vielen Städten Europas zu Gast gewesen, außerdem in Israel und den USA. Kaminer ist als DJ fast ebenso gefragt wie als Schriftsteller, Zeitungskolumnist, Moderator und Talkshow-Gast. Gäbe es einen Wettbewerb „Deutschland sucht den Superrussen“, Kaminer würde gewinnen. Heute abend nun will er im Club „Galaxis“ in Westerland auflegen.
JOURNAL: Entscheiden Sie heute abend spontan, welche Platten Sie auflegen, oder haben Sie ein festes Programm? KAMINER: Vor kurzem habe ich aus St. Petersburg 60 neue Platten mitgebracht, ich werde ein paar von den neuen Sachen auflegen. Obwohl das auf Sylt kein Mensch merken wird. Ich glaube nicht, daß hier jemand schon das alte Programm gehört hat.
JOURNAL: Der britische „Guardian“ hat gelobt, Russendisko öffne das „Portal zu einem völlig neuen, unverdorbenen, MTV-freien Universum“. Von welcher Musik sind Sie denn als sowjetisches Kind geprägt worden?
KAMINER: Als ich noch ganz jung war, war ich von den Kriminal-Chansons sehr begeistert. Das sind sehr einfach gestrickte Lieder mit drei Akkorden, und die Texte erzählen immer so Knastgeschichten: „Ich habe 25 Jahre gesessen, und jetzt bin ich zurück und erkenne die Welt nicht wieder . . .“ Starke Gefühle von einsamen Menschen mit krimineller Vergangenheit. Die meisten Interpreten sind ganz früh in den 80ern abgehauen, nach Amerika, und haben dort als Restaurantmusiker weitergemacht mit einer Gitarre und einem Keyboard. Nichts Besonderes. Aber dadurch, daß sie außer Landes waren, bildete sich eine Legende um sie. Sie wurden zu absoluten Idolen meiner Generation, ihre Musik wurde in Rußland auf Tonbändern von Mann zu Mann weitergegeben. Als 1991 das System kippte, sind viele von ihnen zurückgekehrt. Nur: Die wußten oft gar nicht, wie berühmt sie inzwischen bei uns geworden waren. Plötzlich standen am Flughafen Tausende kreischender Mädels zur Begrüßung, zu den Konzerten kamen dreißig-, vierzigtausend Leute. Worauf diese Musiker meist gar nicht vorbereitet waren, mit dem blöden Keyboard und drei Noten im Gepäck.
JOURNAL: Wie haben Sie eigentlich damals etwas von den westlichen Musiktrends erfahren?
KAMINER: Die „kapitalistische“ Musik kam immer auf sehr ungewöhnlichen Wegen zu uns in die Sowjetunion, nämlich im Diplomatenkoffer von KGB-Leuten oder Spionen, die beruflich im Ausland zu tun hatten. Denn auch die Spione und KGB-Leute hatten Kinder. Und die sagten ihren Vätern: „Ihr geht einfach, wenn ihr in London seid, in einen Musikladen, nehmt im Eingangsbereich die bunteste und schrillste Platte, die da rumliegt, und bringt sie nach Hause.“ Diese Kinder haben die Platten dann an Freunde weitergegeben zum Überspielen, wir hatten ja alle Tonbandmaschinen. So entstanden die ersten sowjetischen Mixtapes. Die Qualität war natürlich sehr schlecht, und auch die Namen der Bands gingen oft verloren. Man wunderte sich beim Hören nur, daß mittendrin eine Band ihren Sänger oder Musikstil komplett ausgewechselt zu haben schien.
JOURNAL: Also hat letztlich der KGB die Westmusik verbreitet?
KAMINER: Ja, das merkwürdigste ist, daß die Spione, die selber gar keine Ahnung von dieser Musik hatten, den Musikgeschmack eines so großen Landes durch Zufallseinkäufe geformt haben. Kam der Agent an irgendeinem Gruftie-Laden vorbei, hörte das ganze Land danach ein Jahr lang The Cure. Kam er in einen anderen Laden, hörte das ganze Land danach ZZ Top oder Roxy Music. Irgendein Diplomat hat auch mal eine King-Crimson-Welle ausgelöst. Deshalb haben die Russen heute so einen ausgefallenen Musikgeschmack. Als wir mit Russendisko anfinden, haben wir sofort gemerkt, daß „unsere“ Musik und die hiesige vorn und hinten nicht zusammenpaßten.
JOURNAL: Das Publikum hat sich aber nicht daran gestört.
KAMINER: Nein, es muß ja auch nicht zusammenpassen. Sonst wäre ja alles gleich.
JOURNAL: In der Russendisko legen Sie kaum HipHop auf. Hat Rußland keine Eminems?
KAMINER: Es müßte sie haben, denn HipHop ist doch nichts anderes als Angeben und Schimpfen auf die schwere Jugend in irgendwelchen elenden Gossen, und von diesen Gossen gibt es in Rußland und der Ukraine mehr als genug. Trotzdem schwächelt der HipHop noch. Es gibt nur eine Handvoll guter Bands, eine davon in Moskau. Das sind drei Männer zwischen 35 und 40, Werbetexter von Beruf. Die machen unglaublich rabiate Texte, ihre Platte heißt „Ströme von Blut“. Wer könnte auch besser von den Pubertätsproblemen in elenden Gossen erzählen als ein 38jähriger Werbetexter mit vier Universitätsabschlüssen?
JOURNAL: Bisher haben Sie immer Musik von russischen Bands gespielt. Die nächste CD, die im Herbst erscheint, soll „Russendisko International“ heißen?
KAMINER: Ja, da wird auch auf baskisch gesungen oder französisch oder auch deutsch (welche deutschen Künstler zum Zuge kommen, will er noch nicht verraten.) Und ich habe vor, in den nächsten Monaten einen richtig großen Club in Berlin aufzumachen . . .
JOURNAL: Das ist ja ganz neu. Einen eigenen Club mit festem Standort?
KAMINER: Ja, davon haben wir schon lange geträumt. Aber inzwischen sind wir so weit, daß wir uns einen eigenen Laden leisten können. Wir wollen dorthin solche Musiker einladen, die im Geiste zu uns passen, die etwas zu sagen haben. Es gibt zum Beispiel das „Datscha“-Projekt oder die „Balkan-Disko“ mit Bands aus dem ehemaligen Jugoslawien.
JOURNAL: Die Russendisko hat sich überhaupt zu einem Wirtschaftsfaktor ausgewachsen. Sind Sie hauptberuflich noch Schriftsteller oder schon Musikunternehmer?
KAMINER: Nein, die Musik war und bleibt mein Hobby. In Deutschland haben sowieso alle Leute Hobbys. Bei uns ist das eben alles irgendwie zusammengewachsen, das Private und das Berufliche. Den Russendisko-Fanshop zum Beispiel betreibt ein Ungar, der in der Band meines DJ-Kollegen Jurij mitspielt. Wir selbst verdienen keinen Groschen daran. Wir schaffen durch das Russendisko-Bollwerk nur Arbeitsplätze für ganze Sippen. (Grinst)Wie eine mafiöse Vereinigung.
22.15 Uhr. Das „Galaxis“ ist eine kleine Disko im Souterrain des Hotels Roth in Westerland und verströmt den Charme der 70er: Die Deckendekoration besteht aus lauter lila Plüschbällen. Am Eingang tritt eine Gruppe feingemachter Endfünfziger gerade wieder den Rückzug an. Eine wohlondulierte Dame im Kaschmir-Twinset findet 10 Euro Eintrittsgeld empörend. „Ich habe mal was von diesem Kaminer gelesen“, sagt sie, „aber Russendisko? Was soll das denn sein?“ Wurde überhaupt für die Veranstaltung geworben? Unten am Rand der winzigen Tanzfläche sitzen zwei ernste Ehepaare – Deutschlehrer? – kerzengerade hinter ihren Kaltgetränken. Demnächst sollte es eigentlich losgehen . . . In der Ecke finden wir einen zutiefst unglücklichen Wladimir Kaminer. „Ich glaube nicht, daß es hier zündet“, sagt er, „Sie sehen ja selbst.“ Was niemand ahnt: Anderthalb Stunden später ist das „Galaxis“ zu einem Hexenkessel geworden. Ein gemischtes, entfesseltes Trüppchen von Aufrechten in Turnschuhen, Strandlatschen und Highheels rettet wild hottend die Ehre Nordfrieslands. Die Bässe wummern wie in einem sibirischen Kraftwerk. Sylt hat den Pogo! Kaminer hinter seinem DJ-Pult macht Faxen, singt laut mit und wirkt befreit. Der Russendisko-Funke hat also auch hier gezündet. Und dabei sind nicht einmal Ströme von Wodka geflossen. Alle aktuellen Informationen über Kaminer, Gurzhy und die Russendisko im Internet: www.russendisko.de mit Büchern, CDs, Postern, Fan-Klamotten zum Bestellen, Newsletter und Terminen.