Northeim ist eine Stadt in Niedersachsen. Das Fachwerk mittendrin ist hübsch anzuschauen, nicht nur in der Stadthalle gibt es Kultur, das an sässige Theater der Nacht ist nun wirklich sehr besonders, mit Günter
Paulers Acoustics-Studio und dem angeschlossenen Label Stockfisch setzte sich Northeim auf die Landkarte gar der Grammy-Nominierungen.
Mehr als passabel, diese Aura der Künste! Warum an dieser Stelle Northeim? Die knapp 29 000 Einwohner hätten in den letzten Monaten die Chance gehabt, Gerhard Gundermanns Lieder und Leben in seltener Üppigkeit kennenzulernen. Ende Januar begannen dort die „Gundermann Kulturtage“ mit am Ende 30 Veranstaltungen und 2500 Besuchern, darunter Konzerten, Lesungen, Filmen.
Zum Finale just am Todestag des Liedermachers spielte Gundermanns Tochter als Linda und die lauten Bräute. Denn leise muss es nicht sein! Im Frühling wurde von Northeim aus eine „Erinnerungskulturreise nach Hoyerswerda organisiert mit gegenseitiger Baumpflanzung auf „Neu-Land“, wesentlich inspiriert durch Andreas Dresens „Gundermann“- Film von 2018. Der Regisseur hatte sich nach langen Jahren des Kampfes genau das gewünscht: Dass die Strophen der Lieder weitergehen und dass sie Menschen erreichen, die bis dahin so überhaupt nichts von Gerhard Gundermann kannten.
Letztlich weiß auch Klaus „Buschfunk“ Koch von nachgerade irren Zahlen zu berichten, was den Verkauf von Liederbüchern in der Zeit nach Filmstart betrifft. Und dass die Dresen-Scheer-Band gekommen
war, um nach der Premierentour zu sammenzubleiben und sich immer wieder neu zusammenzufinden, ist
mehr als eine Fügung des Glücks – für die Musiker und jene, die sie erleben wollen. Gerade ist die 2022er
Konzertreise ins Laufen gekommen, Dresdens Comödie sorgte an zwei Abenden für Anschubprofilierung.
Was ist geblieben von der Energie, die Andreas Dresen (Gesang, Gitarre, Ukulele) und Alexander Scheer (Gesang, Gitarre, Mundharmonika) für Film und Formation zusammenbrachte? Was geht noch mit
Jens Quandt (Tasten), Jürgen Ehle (E-Gitarre), Harry Rossweg (Bassgitarre) und Nicolai Ziel (Drums), die
an Bord geblieben sind, wo sie Dresen in dieser Besetzung zuvor schon in der Kooperation mit Axel Prahl zur Seite standen? „Da geht was!“, rief Scheer, die Rampensau, schon an einer Stelle des Konzerts seinen Lieblingsspruch in den Saal, wo noch überhaupt nicht klar war, was denn nun wirklich gehen würde. Eine Dame im Parkett hatte zuvor nach vorn gegreint, man würde „die Texte nicht verstehen, die Musik wäre zu laut“. Es klang wie „Zweite Kasse aufmachen!“ aus dem Supermarkt. Schön, dass man so etwas auch überhören kann.
Hatte man der Band mit friedfertiger Gelassenheit ein Sichfinden zugestanden und den Technikern an
Licht und Ton das kommende Feingefühl nicht abgesprochen, blühte der Abend dann, besonders nach der Pause, regelrecht auf. Die Liederliste wurde im Vergleich zu 2018 noch einmal kräftig durchgeschüttelt, einige wirklich feine Arrangements legten sich über und unter „Wenigs tens
bis morgen“ (das heute freilich nicht ohne Bemerkung über die Stelle mit dem Gashahn auskommen
kann) und „Revolution Nr. 10“ (das man als Video gar auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung findet).
„Linda“ sang Dresen 2008 erstmals öffentlich, als die Welle öffentlicher Gundermann-Bekundungen anlässlich seines 10. Todestages so richtig Fahrt aufnahm. Es sollte nicht fehlen, ebenso nicht „Schwarze Galeere“, „Männer und Frauen“, „Europa“, „Brigitta“, „Soll sein“, „Und musst du weinen“. Die Stücke
sind behauen, auf Geradlinigkeit getrimmt, suhlen sich vor Wonne auf Jürgen Ehles Saiten, in Jens Quandts Tastenpark und dem sicheren Rockbett der Rhythmussektion. Vorn ergänzen sich Entertainer Scheer und Dresen als Gitarristen und Sänger mittlerweile prächtig. Weil der Vollblutmime
auch Platz lässt, dafür natürlich die besseren Grätschen drauf hat. Weil sich die beiden nicht zum
Schönheitswettbewerb der Oktaven angemeldet haben, sondern das Kernige von Gundermanns Liedern in imperfekter Attitüde belassen. Scheer, herrlich kehlig, Dresen aufmerksam gezügelt. Was ebenfalls auffällt, mehr denn je, ist die Tatsache, dass die Band als eines von vielen Projekten dieser Art, nicht angetreten ist, um vordere Plätze einer sinnfreien Rangliste zu erobern. Wer es denn nun am besten
macht. Oder: Wer es denn nun am besten machen darf. Gundermann-Liedgut ist nur dann gut, wenn es einfach gespielt wird. Rausgehauen! Weil es inspirierend sein soll, mit unaufdringlicher Art auch das Zeitgemäße am Gundermann-Songbook zu filtrieren. Beispiele gibt es zuhauf und nicht nur, wenn das Wort „Krieg“ fällt. Diese Lieder bleiben wichtig speziell auch in den Fragen, die sie stellen. „Wo solln wir hin?“, ist nur eine davon.
Mit Geschmack und Köpfchen sind die Titel der anderen Männer des Programms ausgewählt. Von Rio Reiser kommt nicht etwa Durchgenudeltes, sondern der „Schnüfflersong“. Von Jürgen Ehles Pankow geht es in die Achtziger („Stille“) und frühen Neunziger („Harte Zeiten“), der großartige Gisbert zu Knyphausen
– gerade mit einer wundervollen neuen CD seiner Band Husten am Start – wird als Seelenverwandter dechiffriert und gleich dreimal präsentiert („Unter dem hellblauen Himmel“, „Kräne“, „Das leichteste der
Welt“). Dass der über zweistündige Abend, in Echtzeit gemessen, dann mit David Bowies „Heroes“ enden
darf, ist Scheers „Lazarus“-Rolle am Theater und einem neuen Programm geschuldet, das ihn, „I’m only dancing“ betitelt, im Herbst in einer Kombination von szenischer Lesung und Konzert mit Bowie am Firmament durchs Land schicken soll.
Was hat Andreas Dresen gesagt, befragt danach, wie sich Gundermann-Lieder denn nun singen lassen:
„Nicht leicht. Jede Form von Virtuosität verbietet sich, sonst werden sie leicht pathetisch und fühlen sich
falsch an. Es geht eigentlich nur geradewegs vom Herzen her. Man sollte sie einfach ganz ehrlich aus der Seele herauspurzeln lassen. Gut gepurzelt, übrigens!