Ich schrieb über den ostdeutschen Liedermacher Gerhard Gundermann. Bald darauf starb der Künstler. Das beschäftigt mich bis heute
Es war, als stünden wir auf einem fremden Planeten. Mitten in der Lausitz. Vor uns endlose Weite aus Sand, Kohle, Abraumhalden. Ein ausgedienter Tagebau, nur drei riesige Braunkohlebagger standen noch auf dem menschenleeren Feld, Zeugen einer Zeit, die vorbei war. Neben mir in der Dämmerung ein kleiner, blasser Mann. Gerhard Gundermann. Kohlekumpel, Liedermacher, Rockpoet. Die dünnen blonden Haare zum Zopf gebunden, die klugen Augen hinter der viel zu großen Brille.
Ihn wollte ich treffen, seit ich das erste Lied von ihm gehört hatte. Kurz nachdem die Grenzen offen waren, im Wendejahr 1989, gab mir ein Freund eine Kassette mit Gundermanns Musik. Es war, als schaute mir einer in die Seele. Die nächsten Jahre waren Gundermanns Lieder meine Begleiter durch die neue Zeit, auf meinen Reisen aus Thüringen hinaus in die Welt. Aber dort kannte ihn keiner. Das wollte ich ändern, 1998 als Hospitantin im Länderspiegel der ZEIT, wo man damals gern über die „neuen Länder“ berichtete. Ich schlug vor, ein Porträt über Gundermann zu schreiben, ich wollte wissen, wie dieser scheue Baggerfahrer aus der Lausitz zu so rauen, radikalen und doch zärtlichen Zeilen kam. Man ließ mich fahren.
Gundermann stand am Bahnhof und brachte mich zu dieser Mondlandschaft, die 22 Jahre lang sein Leben war. „Meine Grube Brigitta ist pleite und die letzte Schicht lang schon verkauft“, heißt es in einem seiner Lieder. Er war einer der Letzten, die damals entlassen wurden. Und als er seinen Spind abschloss, die Stiefel auszog und seinen Helm an den Haken hing, hatte Gundermann nicht mal mehr einen Beruf. Der „Maschinist für Tagebaugroßgeräte“ stand auf der Liste von 160 Berufen, die im Westen nicht existierten.
Er hätte singen können, die Kunst zum Beruf machen. Doch das wollte er nie. Aus Angst davor, den Leuten irgendwann nach dem Mund zu singen. Aus Angst, wie andere DDR-Künstler zu enden, die auf Kreuzfahrtschiffen Touristen bei Laune hielten. Als wir uns trafen, kam er direkt aus einer Holzwerkstatt, wo er sich zum Tischler umschulen ließ. Aus seinem Kofferraum zog er einen Bühnenhocker, für den er gerade eine Fünf kassiert hatte.
Ich weiß noch, wie wir in seinem Wohnzimmer saßen, in einem kleinen Haus nahe am Tagebau. Wäre es nicht anders gekommen, hätten sich die Bagger bis hierhin durchgefressen, hatte Gundermann gesagt. „Nun hab ich mein Haus behalten und die Arbeit verloren.“ Es war nicht schwer, mit Gundermann ins Gespräch zu kommen, er war ein Vertrauter, ich kannte ihn aus seinen Liedern. Denn die erzählten von nichts anderem als diesem Leben zwischen Abschied und Aufbruch, zwischen Sehnsucht und Zerrissenheit. Ich höre ihn noch zu seiner kleinen Tochter Linda sagen: „Gut’ Nacht, meine Pampelmuse.“ Dann fuhren wir los zum Soloauftritt nach Görlitz.
Sechs Monate später war Gundermann tot. Er starb mit 43 Jahren, am 21. Juni 1998, zur Sommersonnenwende, über die er kurz zuvor bei seinem letzten Konzert philosophiert hatte. Morgens im Badezimmer brach er zusammen. Hirnschlag.
Ich rief Ralf an, den Freund in Berlin, der Gundermann schon hörte, als ich noch in der Plattenabteilung im Centrum-Warenhaus Amiga-Scheiben erstand, über die keiner redete. Ich hab ihm alles erzählt von meiner Begegnung. Von meiner Verzweiflung darüber, wie schnell ein Leben vorbei sein kann. Von der Frage, die mich quälte: Hatte mein Artikel damit zu tun? Ralf sagte, vielleicht hat Gundermann etwas geahnt, so oft wie er vom Tod gesungen hat.
So richtig trösten konnten wir einander nicht. Viel zu früh legten wir wieder auf. Dabei waren Gundermanns Lieder der Soundtrack unserer Freundschaft, unseres neuen Lebens, seit die Mauern um uns zusammengestürzt waren. Keiner konnte so klar sagen, was wir fühlten und dachten, wie Gundermann. Obwohl wir frei waren und jung und das neue Land uns nicht ängstlich, sondern neugierig und mutig gemacht hatte und wir ohne Zögern um die Welt reisten. Gundermann brauchten wir in den Pausen. Wenn alles zu viel wurde. Wenn er sang, spürten wir, dass auch wir etwas verloren hatten, einen Schmerz in uns trugen, den wir nicht zeigen wollten. Wir kannten viele Lieder auswendig, sangen sie, als wir durch Europa trampten, von Leipzig nach Glasgow, nach Belfast. Abends, wenn wir mit anderen Reisenden in Hostels saßen, übersetzten wir sie ins Englische, Spanische, Russische.
Gundermann war mit uns aus dem Gestern gekommen, trotzdem hörten wir ihm zu. Er war unsere Verbindung zum Früher, das wir so euphorisch hinter uns ließen. Manchmal spürten wir ein Gefühl erst, wenn er es ausgesprochen hatte, und merkten spät, wie schnell wir begonnen hatten, Dinge einfach zu schlucken. Anders als er, der daran erstickt wäre.
Nach seinem Tod ertrug ich lange kein Lied mehr von ihm. Freunde aus dem Westen fragten mich über ihn aus, baten um Musik. Der Text in der ZEIT hatte viele auf ihn aufmerksam gemacht. Mein Plan war aufgegangen. Und doch hörte ich mich sagen: Ich weiß nicht, ob ihr ihn versteht. Auch als sie später anfingen, ihn überall zu spielen. Als neue Bands wie die Randgruppencombo aus Tübingen mit seinen Liedern die Konzerthallen füllten, machte mich das nicht froh. Dürfen die das?, fragte ich mich. Spüren die, was sie da singen?
Ralf und ich – unsere Freundschaft hat nach Gundermanns Tod eine lange Pause gemacht. Vor ein paar Wochen, als ich Ralf von diesem Text erzählte, sagte er, es sei ihm immer vorgekommen, als habe Gundermann nicht nur unsere Zeit vertont, sondern auch unsere Freundschaft. Vielleicht mussten wir deshalb so lange schweigen. Jetzt reden wir wieder.
Der eine sagt den Anfang einer Zeile, der andere ergänzt den Rest: „Immer wieder wächst das Gras, wild und hoch und grün“ – „bis die Sensen ohne Hass ihre Kreise ziehen.“ – „Immer wieder wächst das Gras, klammert all die Wunden zu, manchmal stark und manchmal blass, so wie ich und du.“