Starke Songs und mitreißende Spielfreude bot das letzte Konzert beim diesjährigen Tollhaus-Zeltival in Karlsruhe. Zwei Größen der Filmszene widmeten sich dem Werk des ostdeutschen Liedermachers Gundermann.
Das war mein zweitbester Sommer*, singt Filmstar Alexander Scheer im Tollhaus Karlsruhe, Nun ja: Zum Sommer an sich würden etliche der rund 400 Besucher wohl Zweifel anmelden. Denn auch bei dieser letzten Zeltival-Veranstaltung kommt das Wetter herbstlich daher. Doch das tut der Freude keinen Abbruch. Nach dem Konzert sieht man reihenweise glücklich strahlende Gesichter. Bei den Besuchern und bei den Künstlern, die noch lange mit leuchtenden Augen am Merchandise Stand sitzen und CDs signieren.
Über zwei Stunden lang haben Alexander Scheer („Sonnenallee“) und der Filmregisseur Andreas Dresen („Sommer vorm Balkon“) gemeinsam mit einer fulminanten Band durch das Repertoire von Gerhard „Gundi“ Gundermann geführt. Der Liedermacher aus Hoyerswerda, der 1998 mit nur 43 Jahren an einem Schlaganfall starb, war als „singender Baggerfahrer“ vor allem in Ostdeutschland erfolgreich.
2018 lenkte Dresens Filmbiografie „Gundermann“ mit Scheer in der Hauptrolle auch in westlichen Bundes ländern mehr Aufmerksamkeit auf den außergewöhnlichen Liedermacher und sein Werk. Für die Gala zum Deutschen Filmpreis im Dezember 2018, bei der Gundermann* sechs Auszeichnungen abräumte, trommelten Scheer und Dresen eine Band zusammen.
Diese Band zeigt sich nun beim Zeltival in mitreißender Spielfreude. „Karlsruhe, ich merke schon, hier geht was“, ruft Scheer bereits nach dem zweiten Song in den Applaus. Besonders die beiden Frontmänner, die ja nicht hauptberuflich Musik machen strahlen ansteckende Energie aus. Zudem ergänzen sie sich ideal: Dresen kommt so bodenständig-authentisch daher wie seine Filme, Scheer erinnert gesanglich und in seiner Bühnenpräsenz an Rio Reiser. Und mit der E-Gitarre wirbelt er herum wie Keith Richards, den er im Film „Das wilde Leben“ dargestellt hat.
Den Keith-Richards-Sound allerdings steuert Gitarrist Jürgen Ehle mit herrlich dreckigen Rock-Riffs bei. Doch in sein Spiel kann man sich auch wohlig hineinlegen wie bei Mark Knopfler. Und sein Solo am Ende von „Keine Zeit mehr* lässt Ehle episch eskalieren wie weiland David Gilmour in „Comfortably Numb“ von Pink Floyd.
Der Song ist auch ein Beispiel für die zeitlose Gültigkeit von Gundermanns Texten. „Ich habe keine Zeit mehr, ich stell mich nicht mehr an / In den langen Warteschlangen, wo man sich verkaufen kann“, heißt es im Refrain. Das mag 1993, als das Lied entstand, ein Kommentar des überzeugten Arbeitersängers zu den radikalen Umbrüchen in der Nachwendezeit gewesen sein. Doch es trifft auch einen Nerv in der durchökonomisierten Gegenwart.
Zeitlos wirken auch Gundermanns poetische Reflektionen – und die neu entdeckte Lebensfreude in dem Lied „Linda“ über seine Tochter: „Du bist in mein Herz gefallen wie in ein verlassenes Haus.“ Dieses Stück wird von mehreren Konzertbesuchern eingefordert, kommt aber erst im zweiten Zugabenblock. Da ist Alexander Scheer schon in „Heroes“ von David Bowie singend durch den Saal gelaufen, als käme er frisch aus der Garderobe und hätte nicht zwei Stunden Konzert in den Knochen. Denn diese Band ergänzt den Blick von Gundermann auf die Welt durch die ungebrochene Lebensbejahung der Musik, so schlicht wie schlüssig in Worte gefasst von dem Hamburger Liedermacher Gisbert zu Knyphausen: „You will be saved by Rock ’n‘ Roll.“
Der stimmungsvolle Abend war der Schlusspunkt eines rund sechswöchigen Festivals, das laut Tollhaus-Mitteilung mit rund 30 Veranstaltungen mehr als 21.500 Besucherinnen und Besucher erreicht hat. Das bedeute einen spürbaren Zuwachs im Vergleich zur ersten Nach-Corona-Ausgabe 2022.
In diesem Jahr sind wir merklich wieder in der Normali-tat angekommen“, wird Tollhaus-Mit-gründer Bernd Belschner in der Mitteilung zitiert. Der langjährige Geschäftsführer habe das Zeltival in diesem Jahr letztmals als Gestalter verantwortet…Eswar sehr schön, dass das Publikum offensichtlich ohne Vorbehalte wieder zurückgekommen ist.*
Das nächste Festival im Tollhaus steht schon in gut fünf Wochen an: Am Mittwoch, 13. September, beginnt die achte Ausgabe des Atoll-Festivals für zeitgenössischen Zirkus. Zum Auftakt habe man mit Cirkus Cirkör aus Schweden .Nordeuropas berühmteste und größte Zirkuskompanie“ zu Gast, kündigt das Tollhaus an. In deren Stück .Knitting Peace“ entstehe ein faszinierendes Konstrukt aus weißen Fäden, das neben atemberaubender Akrobatik und rockiger Live-Musik auch einen Friedensappell biete. Insgesamt gebe es bis zum 24 September an zehn Veranstaltungstagen 35 Vorstellungen von 20 Produktionen.