Mitch Ryder wird in Deutschland immer noch auf ein einziges Konzert reduziert. Das im Rockpalast am 06. Oktober 1979 nämlich. Ich habe es damals im Fernsehen gesehen und war hinterher völlig platt. Eine solche Intensität hatte ich selten zuvor und nicht mehr oft danach erlebt. Ein Sänger, der seine Seele wirklich aus sich heraussingt/brüllt. Es war ein hartes Konzert. Geprägt von Brutalität gegen sich selbst, der Lust, dem Publikum zu zeigen, wo der Blues weh tut und vor allem von einem zynischen Mann, der 1978 bereits alles hinter sich hatte. Hits ab Mitte der 60er, härtesten Detroit-Rock am Ende der Hippie-Ära, Las Vegas-Schmus, einen Ausstieg aus der Rockszene in den 70ern und schließlich ein großartiges Comeback in Europa. Die damals von LINE Records veröffentlichten LPs waren (und sind bis heute) echte Meilensteine des amerikanischen Rock. Ich würde sogar sagen, es waren Wegbereiter für Leute wie John Mellencamp. Nur haben die immer mehr auf Massenkompatibilität geachtet und waren dementsprechend kommerziell wesentlich erfolgreicher. Mitch Ryder tourte in diesen Jahren oft und erfolgreich durch Deutschland. Ich habe ihn jedes Mal gesehen, es waren immer gute bis geniale Konzerte, je nachdem, was für eine Tagesform er hatte und wie seine Bands zusammengesetzt waren.
Nach dem erneuten kommerziellen Abstieg ab Mitte der 80er war William Levise Jr. plötzlich 1994 wieder da. Verblüffenderweise mit einer Band aus Deutschland. Ostdeutschland sogar. Die „Veteranen“ von ENGERLING spielten die CD „Rite Of Passage“ mit Mitch ein und gehen seitdem regelmäßig als seine Backing Band mit ihm auf Tour. Im letzten Jahr war es wieder so weit – wir haben die Konzerte in Frankfurt, Erfurt und München in Wort und Bild festgehalten – und es waren ergreifende Konzerte. Ein Shouter, der nach wie vor eine unglaubliche Stimme besitzt – trotz offensichtlicher körperlichen Abnutzungserscheinungen – und dazu eine Band, die die Musik des Frontmannes perfekt umsetzt. Soul, Funk, Reggae, Rhythm & Blues, Hardrock, Blues oder was auch immer. Nicht routiniert abgewichst, sondern mit so viel Hingabe und Spaß, dass man 2 Stunden mit Gänsehaut in den Clubs stand.
Und jetzt haben wir das Dokument dieser Tour vor uns liegen. 78 Minuten, 10 Nummern von 7 verschiedenen Auftritten und mir läuft wieder die besagte Gänsehaut den Rücken hinunter. Alleine die Band – ENGERLING wurden ergänzt durch Langzeitbegleiter Robert Gillespie an der Lead Gitarre – ist ein echtes Ereignis. Druckvoll, mächtig, in jeder Hinsicht perfekt. Und dann natürlich dieser Sänger.
War kommt, wie bei den Konzerten, als Opener und wenn man sich von den zweistimmigen Gitarren von Heiner Witte und Gillespie sattgehört hat, kriegt man ein feines Orgelsolo von Boddi Bodag. War ist ein leicht funkiger Song, der zwar 23 Jahre alt ist, aber heute so modern klingt, wie gute Musik immer klingen wird. Richtungswechsel. Terrorist baut dezente Welt-Musik-Klänge ein. Und wie Mitch „I need love“ singt, überzeugt jeden, dass er sie wirklich braucht. Wer aber wissen will, wie man in der Hölle frieren kann, braucht nur Freezin‘ In Hell anhören.
Bereits mit Song #4 kommt der Höhepunkt – zumindest könnte sich eine herkömmliche Band anschließend nicht mehr steigern. Ain’t Nobody White ist DAS Statement über weiße Bluessänger. Niemand wird dieses Lied jemals annähernd so eindrucksvoll interpretieren können. Kleine Kritik am Rande: Im Vergleich zur Gitarre ist der Gesang hier etwas zu leise.
Die Setlist der Konzerte hat auf der Tour immer wieder gewechselt. Heart Of Stone kam in München und Frankfurt nicht zum Zug. Jetzt ist dieser Jagger/Richards-Song schon 37 Jahre alt und im Original klingt er wirklich reichlich verstaubt. Aber dann machen Ryder und die Band ein 10-minütiges Opus daraus, bei dem man in Habachtstellung da sitzt und lauscht. Höchst spannend. Wenn Mitch plötzlich wie wild kreischt, erschrickt man trotzdem. Der Weiße Hai-Effekt!
Noch ein Oldie. Wicked Messenger von Bob Dylan aus dem Jahr 1967. Wie schon auf der 82er „Live Talkies“ auch hier ausgesprochen heftig gerockt. Neben den Gitarren fällt mir besonders das Drumming von Vincent Brisach auf. Beste Rhythmusarbeit. Gleich anschließend wieder ein Beispiel, wie wandlungsfähig die Band ist. Das Intro zu Red Scar Eyes (von der 81er „Got Change For A Million?“ LP) wird 5 Minuten lang von Piano und dezenter Gitarre bestritten. Und zwar wunderschön! Dann erst der eigentliche Song und es groovt sich die nächsten 5 Minuten wunderbar ein. Die entspannte und friedliche Stimmung wird weiter gesteigert mit dem Reggae True Love. Ein rockiger Reggae mit viel Gitarre und natürlich kann Mitch nicht wie ein Rastamann singen. Insofern klingt True Love auch nicht wie ein Jamaica-Schunkellied, sondern eher wie eine Drohung. Tolle Nummer.
Schluss mit friedvoll ist dann selbstverständlich bei den beiden Abschiedsnummern Gimme Shelter und Soulkitchen. Mehr als 20 gefährliche Minuten, eingeleitet von Ghost Riders In The Sky (jaja, nicht nur Southern Rocker können das) und dann ab in die Tiefen des bösen Rock & Roll-Universums. Gimme Shelter (von „Let It Bleed“, 1969) hat eine von vornherein gewalt(tät)ige Ausstrahlung. Mr. Levise und die Engerlinge machen beinahe ein Monumentalwerk daraus. Ach, hätten die STONES nur jemals diese musikalische Klasse besessen. Die besten Songschreiber aller Zeiten sind sie eh. Die gefühlte Länge dieser Version ist ca. 3 Minuten. In Wirklichkeit dauert sie über 9.
Ganz zum Schluss noch mal eine uralte Kamelle. Soul Kitchen von den DOORS (auf der CD wird es Soulkitchen geschrieben). Den Sex von Morrison hat Ryder nicht. Dafür aber die noch eindrucksvollere Stimme. Und er ist noch am Leben. Nochmal ein absolutes Highlight.
Ein tolles Dokument einer tollen Tournee. Und das Beste am Schluss: Im Januar 2003 kommen Ryder und Engerling wieder auf große Tour.