Stehende Ovationen in Zinnowitz: Der Schauspieler Alexander Scheer und Regisseur Andreas Dresen, die dem legendären Ost-Rocker 2018 schon einen Film widmeten, boten auf der Ostseebühne ein feines Programm aus dem Repertoire Gundermanns. Das Publikum war begeistert
Zinnowitz. Alles muss raus: Die ganze Freude über diesen beschwingten, lebhaften Abend, aber auch der
Frust über 18 Monate, in denen sie wegen Corona nicht auftreten konnten. Und deshalb springt, fegt, ja
hechtet Alexander Scheer bei der letzten Zugabe geradezu über die Ostsee-Freilichtbühne in Zinnowitz.
Er wetzt die Stufen zur fünf Meter hohen Empore über der Spielfläche hinauf. Er rennt über die beiden erhöhten Seitengänge am Rande der Ränge, die in dieser Spielstätte normalerweise die hier beheimateten Schauspieler der Vineta-Festspiele für Einmarsch und Effekte nutzen.
An diesem Montagabend sind Alexander Scheer, Andreas Dresen und ihre Band die Hauptdarsteller – mit einer Hommage an den legendären und viel zu früh verstorbenen Rockmusiker Gerhard Gundermann
(1955-1998). 2018 widmete Regisseur Dresen Gundermann einen viel beachteten Film – mit seinem
Protagonisten Scheer. Der Streifen machte den Liedermacher neuen Zielgruppen in ganz Deutschland bekannt – und bekam beste Kritiken, wurde zudem 2019 mit fünf LOLAs, dem Deutschen Filmpreis dekoriert.
Seitdem gingen Dresen und Scheer samt Band mit Gundermanns Musik auch auf Tour – bis
Corona kam. Der Auftritt in Zinnowitz vor fast 300 Zuschauern (was wegen der einzuhaltenden Corona-
Abstände ausverkauft bedeutet) ist nun der erste nach der langen Pause – und die Spielfreude dementsprechend riesig. „Eine solche große Bühne wie diese muss man doch nutzen“, ruft Alexander Scheer dem Publikum nach seinem „Ausdauerlauf“ zu. Und Regisseur Dresen sagt ein ums andere Mal: „Es ist so geil, wieder zu spielen.“
Das macht die „Gundermann-Band“ gekonnt. Dass mancher Einsatz noch nicht sitzt, überspielt das
Quintett charmant. Die Musiker nutzen es für das Improvisierte, das Unfertige und Rebellische, das Gundermanns Lieder ausmacht. Sie mixen Rockiges mit Balladen. Scheer spielt dabei auch die Mundharmonika. Neben Songs von Gundermann bauen sie Stücke von Rio Reiser, Pankow oder Gisbert zu Knyphausen, die zum Repertoire passen. Als vierten Song singt Scheer die Ballade „Linda“, den Gundermann für seine Tochter schrieb, die er mit 35 Jahren „noch sehr spät bekam“, wie er damals einschätzte und die ihm neuen Lebensmut gab. Gänsehaut auf den Rängen. Doch gleich geht’s rockig weiter. Die Band spielt bei den Fans beliebte Songs wie „Brunhilde“, „Ich mache meinen Frieden“, „Keine Zeit mehr“ oder „Das war mein zweitbester Sommer“. Bei der ersten Zugabe „Vater“ – ruhig als Akkustikversion vorgetragen – kreischen tatsächlich die Ostseemöwen zur Begleitung.
Nach „Und musst Du weinen“ hebt Dresen die Hände und ruft „Gundi“ gen Himmel. „Ich hätte
nicht gedacht, dass wir drei Jahre nach dem Film immer noch unterwegs sind und sich alle so freuen“,
sagt der Regisseur, der auch als Professor an der Hochschule für Musik und Theater (HMT) in Rostock
arbeitet.
„Wir spielen sogar im Westen – und die finden dat jut“, berlinert er augenzwinkernd. Und er erzählt etliche Anekdoten, die das Publikum schmunzeln lassen – zum Beispiel davon, dass Gundermann jeden
Song zuerst seiner Frau Conny vor spielte. Bis auf einen („Kann mich nicht erinnern“) – und darin hat er
gleich so derbe Ausdrücke verpackt, dass Conny bei der Premiere pikiert den Saal verließ.
Was Scheer, Dresen und Band gelingt, ist die Musik des Liedermachers und Lausitzer Baggerfahrers Gerhard Gundermann lebendig zu halten – einem Mann, in dem Fachleute heute einen der besten
deutschen Songtextschreiber sehen, der gleichzeitig systemkritisch und Stasi-Mitarbeiter in der DDR
war. Und sie schaffen es – wie ein Blick auf die Ränge zeigt – auch Menschen zu begeistern, die den
echten Gundermann kaum kannten, ihn aber durch das Engagement der Band entdeckt haben.
Als Alexander Scheer im Retro hemd – Hut und Hosenträger hat er schon abgeworfen – zur vorletzten
Zugabe („Gras“) ansetzt, wirkt es so, als singe da tatsächlich Gerhard Gundermann. „Das ist unheimlich.
Er klingt fast mehr nach ,Gundi’ als ,Gundi’ selbst“, scherzt ein Besucher. Wieder Gänsehaut! Und am
Ende gibt es stehende Ovationen.