50 Jahre DDR-Band Engerling: Moll hat längst ausgecheckt

Berliner Zeitung vom 11.10.2025, Michael Rauhut

Engerling sind nie geschminkt oder geliftet auf die Bühne gegangen. Nun wird die Berliner Bluesrock-Institution 50. Herzlichen Glückwunsch!
Michael Rauhut, Berliner Zeitung vom 11.10.2025

Wer dabei war, wird es sein Leben lang nicht vergessen. Dieses erhebende Gefühl von Freiheit, Gemeinschaft und Rausch, ein Woodstock in Dauerschleife. Wir drehen die Uhr zurück und reisen in die späten 1970er; die DDR steht noch auf einigermaßen festen Füßen. Jedes Wochenende schneidet sich ein blaugrüner Strom von langhaarigen Jeans- und Parkaträgern, die ostdeutsche Version der Hippies, durch die Provinz, um für ein paar Stunden dem Alltagsgrau und Erziehungsdruck des Staates zu entfliehen. Man trifft sich in den Tanzsälen privat geführter Dorfgasthöfe zu Konzerten, konsumiert Unmengen von Alkohol, schwört Love & Peace und feiert die Kraft der Musik.

Die Szene lässt nur das Handgemachte, „Echte“ gelten: den Blues in allen Varianten, Southern Rock und Folk. Ihre Helden heißen Stefan Diestelmann, Jürgen Kerth, Hansi Biebl oder Monokel. Die Berliner Gruppe Engerling ragt aus der Königsklasse heraus. Sie ist stilistisch wandlungsfähiger als die anderen, ihre Songs haben die besseren Texte, sie berühren uns mit Hingabe und einer warmen Intelligenz. 1983 schockt Engerling-Chef Wolfram Bodag, den alle nur Boddi nennen, die Fans. Er wisse gar nicht, ob er noch lange durchhält, orakelt er in einem Interview. Ständig on the road, das geht an die Substanz. Nun feiert die Band ihr 50. Jubiläum. Boddi, 1950 in Bad Freienwalde geboren, steigt noch einmal in den Zeittunnel.

„Unser erster Auftritt war 1975, ein Konzert in Blankenfelde, südlich von Berlin. Nach anderthalb Stunden hatten wir keine Titel mehr und fingen wieder von vorn an. Die Leute waren so euphorisch, ließen uns nicht von der Bühne. Wir sind auf Wolke sieben geschwebt. Das war schon irre.“ Engerling bedienen sich
beim „weißen“ Blues von John Mayall, Canned Heat, den Allman Brothers, Doors und Peter Greens Fleetwood Mac. Sie sind jung und ungestüm, beseelte Musiker ohne Allüren. Ihre Welt kennt keine Backstage-Zone.

Weil sie die Spinnerei mancher Kollegen, die von Starruhm träumen und sich großspurig Mythos oder Vulcan nennen, lächerlich finden, schreiben sie erstmal Salonorchester Engerling in die Annoncen. Das hat so seine Tücken. „Wir sind von einem Veranstalter, der uns nicht kannte, für das Interhotel in Oberwiesenthal gebucht worden. Da traf sich die Hautevolee. Die Damen trugen schicke Abendkleider, die Herren Anzüge. Man setzte sich an die gedeckten Tische und freute sich auf den Tanzabend. Die Leute haben wahrscheinlich nostalgische Musik à la Max Raabe erwartet. Und dann kamen Engerling! Wir haben den Saal regelrecht leergespielt. Aber so ganz falsch war unser Name nicht. Wir hatten damals einen Geiger dabei. Blues mit Geige fanden wir gut. Außerdem hatten wir zwei Gitarristen. Also, wir waren schon
ein kleines Orchester.“

1978 klopft die staatliche Plattenfirma an. Man möchte mit Engerling eine LP produzieren. Das ist in zweierlei Hinsicht ungewöhnlich. Zum einen besitzen Engerling formell noch Amateurstatus, das Gesetz erlaubt ihnen lediglich, ihre Musik als Hobby auszuüben. Zum anderen sind Plattenproduktionen im Reich
der Mangelwirtschaft rar gesät. Als DDR-Künstler muss man sich dieses Privileg zäh erkämpfen. Engerling fällt es quasi in den Schoß. Warum?

Der Staat registriert den Wildwuchs der Bluesszene mit Unbehagen. Er spürt, wie ihm die Kontrolle entgleitet. Tausende trampen kreuz und quer durch die Republik und tauchen im Underground ab. Eine sozialistische Freizeitgestaltung sieht anders aus! Man versucht, der Bewegung den subversiven Stachel zu
ziehen und sie zu kanalisieren. Die Stasi hält ihr Ohr an die Masse; Jugendklubs und Kulturhäuser etablieren spezielle Konzertreihen; die Medien öffnen sich dem Blues. Man deutet diese Musik als progressive Stimme des „anderen Amerika“, als Aufschrei der Geknechteten und Rechtlosen. Damit ist sie
kulturpolitisch legitimiert. Etwa zeitgleich mit Engerling veröffentlichen auch Stefan Diestelmann, Jürgen Kerth und Hansi Biebl ihre Debüt-Alben.

Engerling werden inzwischen von Gert Leiser professionell gemanagt. Sie treten im Fernsehen auf, laufen im Radio und bringen 1981 ihre zweite LP heraus. Aus den Gründungstagen sind nur noch Wolfram Bodag (Keyboards, Gesang, Mundharmonika, Texte, Kompositionen und Arrangements) und Heiner
Witte (Gitarren) dabei. Zum neuen Line-up gehört ein Saxophonist. Engerling haben sich stilistisch gehäutet, sie sind nun eine Rockband, die ihre Blueswurzeln pflegt. „Tagtraum …“ ist ohne Zweifel eines der besten Alben der DDR. Boddi, der bis heute von Syd Barretts Pink Floyd begeistert ist, reizt mit
dem Titeltrack seine psychedelische Neigung aus. Er erzählt in verschlüsselten Bildern von seinem ersten Joint, den er 1970 mit einer französischen Freundin im Weimarer Goethe-Park geraucht hat.

Mitte der 1980er verschwinden Engerling für ein paar Monate von der Bildfläche. Es ist nicht der Tourstress, der zur zeitweiligen Auflösung zwingt, sondern eine Begegnung mit der Staatsmacht. Boddi wird vom Chef eines Erfurter Studentenklubs des Vandalismus bezichtigt. Angeblich hätte er mit
Schnapsgläsern um sich geworfen. Bodag ist empört, der andere ruft die Polizei. Es kommt zur Verfolgungsjagd, dann zur Prügelei. Ein Uniformierter schlägt den vermeintlichen Missetäter zu Boden, der revanchiert sich mit einem Würgegriff. „Ich habe ihm dann die Schulterstücke abgerissen. Das war ja ganz schlimm! Inzwischen kam ein zweiter dazu, und die beiden haben mich so richtig vermöbelt. ‚Was bist du, Musiker?‘ Krach, krach, krach. Sie haben einen Finger nach dem anderen zerquetscht und ausgerenkt. Ich wurde dann in einen Lada verfrachtet, zur Erfassung der Personalien. Ein junger Beamter
guckte in meinen Ausweis und sagte: ‚Engerling? Ihr habt doch mal bei uns auf der Polizeischule in Neustrelitz gespielt. Geh mal in dein Hotel.‘ Er hat mich laufen lassen. Meine Hände waren aber hinüber. Ich konnte ein halbes Jahr lang nicht spielen.“

Boddi erzählt die Geschichte 2004 auf einer Konferenz zum Blues in der DDR. Sein Verhalten sieht er selbstkritisch. Eine junge Doktorandin aus Bayern meldet sich zu Wort. Sie versteht die Welt nicht mehr, spricht vom Unrechtsstaat und Repression. „Herr Bodag, haben Sie denn nie über einen Antrag auf Rehabilitierung und Schadenersatz nachgedacht?“ Boddi zuckt mit den Schultern. Nee, hat er nicht.

1989 erscheint die letzte DDR-LP von Engerling. „So oder so“ ist erneut ein großer Wurf, die Platte bekommt reichlich Airplay. Mit „Die anderen“ wird zum ersten Mal ein explizit politisches Thema aufgegriffen. Es geht um die Heuchelei der Satten, die nur an sich selbst denken. Nach uns die Sintflut! Den Song würden wir auch heute gern im Radio hören. Das nächste Album, „Egoland“, liefert kluge Statements zur deutschen Wiedervereinigung. 1992 produziert, wird es vom Lärm der „Wende“ jedoch übertönt.

Fünf Jahre später bringen Engerling „Komm vor“ auf den Markt. Es ist eine großartige Platte, gedankenschwer, subtil und kraftvoll. Leider bleibt es die letzte Studio-LP. Es folgen ein paar Live-Aufnahmen, darunter die grandiose Kollaboration mit Uschi Brüning und Ernst-Ludwig Petrowsky. Vielleicht fehlt Boddi & Co. einfach die Muße für neues Material, denn sie sind gut ausgelastet.
1994 heuert sie der amerikanische Rocksänger Mitch Ryder als seine europäische Backing Band an. Ein Glücksfall für beide Seiten. Engerling touren nun auch im Westen, in der Schweiz, Österreich, Belgien, Frankreich, Spanien, Holland und Schweden. Außerdem gehen sie mit dem Detroiter Shouter
regelmäßig ins Studio.

Aber auch Mitch Ryder ist des Lobes voll. In seiner Autobiografie „Devils & Blue Dresses“ schwärmt er: „Ich habe den Jackpot geknackt.“ Trotzdem kommt es 2024 zum Bruch. Das fulminante Live-Dokument „The Roof Is on Fire“ wird vom US-Magazin Billboard in den Blues-Charts gelistet, eine Art Ritterschlag.
Die neue Plattenfirma setzt dem 79-Jährigen einen Floh ins Ohr: Wenn er wollte, könnte er noch mal international groß durchstarten. Ryder verlässt seine ostdeutschen Weggefährten ohne ein Wort des Abschieds.

Auch wenn die jährlichen Tourneen mit dem amerikanischen Frontmann nun wegfallen, können Engerling über Zulauf nicht klagen. Es sind die alten Fans, die der Band seit Jahrzehnten die Treue halten und zu den Konzerten pilgern, Wochenende für Wochenende. Sie tragen schütteres Haar, Jeans mit Bauchweite, manchmal auch noch den „Shelli“ genannten Parka. Der Outsider belächelt sie: Das sind doch exakt die Typen, die Engerling in einem ihrer Hits beschreiben! Sie meinen „Moll“, der auf Lebzeiten ins „Erinnerungshotel“ eingecheckt hat und langsam am Selbstmitleid erstickt. Boddi legt sein Veto
ein: „Ich glaube nicht, dass die Leute den angeblich guten alten Zeiten nachtrauern und nur wegen der Musik kommen. Die fahren durch die Gegend, um sich zu treffen. Das ist wie eine große Familie, die immer zusammenhält.“ Und Engerling stiften den Rahmen. Man kann sich auf sie verlassen, auf ihre
Bodenständigkeit, den Blick fürs Wesentliche.

Nun steht also das goldene Jubiläum bevor. Am 18. Oktober laden die Band plus Gäste zur rauschenden Party ins Kesselhaus der Berliner Kulturbrauerei. Manne Pokrandt wird den Bass umschnallen, Heiner Witte einen Bottleneck auf den Finger stecken. Boddi postiert sich hinter seinen Keyboards, auf denen noch immer der Spruch „Freude am Beruf“ klebt. Das meint er keineswegs ironisch. Sein Sohn Hannes zählt am Schlagzeug den Takt ein, und dann treiben wir wieder in diesem besonderen Gefühl von Freiheit, Gemeinschaft und Rausch. Engerling werden das „Muschellied“ spielen, den „Narkose Blues“ und natürlich „Mama Wilson“. Ihre Coverversion von „Eve of Destruction“ würde gut passen. Unsere Augen werden glänzen, die Herzen höher schlagen. Und wir wünschen uns, dass diese Musik niemals endet.

50 Jahre Engerling. Das Jubiläumskonzert 2025 mit Freunden und Weggefährten. Kesselhaus der Kulturbrauerei, Samstag, 18. Oktober, 20 Uhr, ausverkauft

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