Hans-Eckardt Wenzel über Poesie und Musik, Freiheit und Disziplin, Heimat und Volkskunst im Gespräch mit Martin Hatzius
Sie mögen das Wort »Liedermacher« nicht. Was stört Sie daran?
Dieses Wort gibt dem Vorgang des Produzierens eine dilettantische Note. Andere Nationen nennen das Chansonnier, Singer/ Songwriter oder Poet. Hier tut man so, als ob es sich um Bastelei handele, als hätte das Produkt weder mit Poesie noch mit Musik zu tun.
Welchen Stellenwert hat die Musik für Sie?
Was in der Poesie unter der Textstruktur verborgen liegt, Rhythmus und Melodie, kann Musik befreien und in einen neuen, nonverbalen Zusammenhang heben. Die Rhapsoden der Antike nahmen Rhythmus und Melodie als Medium an, in dem der Text haltbar blieb. Der Ursprung aber ist die Musik – der Pulsschlag, der den Raum aktiviert. Vor der Schriftsprache war es nur möglich, sich Texte zu merken, in dem man sie sang. Dadurch entstehen tiefere Verankerungen in unserem Gedächtnis.
Seit wann spielt Musik diese wichtige Rolle in Ihrem Schaffen?
Für mich wurde sie nach der Wende entscheidender. Die DDR war ein textzentriertes Land, in dem die Musik eher funktional gedacht wurde. Musik hat aber die größte Kraft, Denkschemen zu sprengen. Sprache ist an den Ort gebunden, Musik viel mehr an die Zeit. Sie ist eines der letzten Medien, das unser Leben ins Verhältnis zur Unendlichkeit setzen kann.
Sie nehmen Album um Album auf, spielen hundert Konzerte im Jahr. Woher kommt diese Energie?
Für mich ist es ein glücklicher Umstand zu arbeiten. Mich schwächt es, wenn ich nichts zu tun habe. Ich muss das machen, weil ich sonst den Überblick in der Welt verliere. Ich mache das, um die Trümmer wegzuräumen, um zu erkennen, was ich erlebt habe.
Künstler – ein Wunschberuf?
Ich hatte den Traum, so zu existieren, sehr früh. Ich habe mein Studium damals nur begonnen, um aus der Kleinstadt wegzukommen und wollte eigentlich nach zwei Monaten aufhören.
Sie haben Ihr Studium dann aber abgeschlossen.
Ich habe es abgeschlossen, weil es mir unwahrscheinlichen Spaß gemacht hat: Ästhetik bei Wolfgang Heise an der Humboldt-Uni! Ich hatte großartige Lehrer. Ich habe begriffen, welche Hybris ich habe. Wie wenig ich wusste, wie schwach ich denken konnte. Ich lernte, die Texte der Antike zu lesen – und Kant, Hegel, Marx. Das alles ist mir so beigebracht worden, dass ich immer noch damit lebe.
Sie waren stets freischaffender Künstler. War es immer möglich, über die Runden zu kommen?
Ich habe immer davon gelebt, mal besser, mal schlechter. Aber das war nie das Kriterium. Ich habe das nie gemacht, um reich davon zu werden. Es hat mich interessiert, den Lebenssinn aus mir selbst zu definieren. Als ich fertig mit dem Studium war, war es gar nicht so einfach, keinen Beruf zu kriegen. In der DDR waren die Universitäten verpflichtet, dir eine Stelle zu geben. Die wollte ich aber gar nicht.
Das klingt heute absurd.
Ist es auch. Ich habe nach dem Studium die ersten drei Monate, weil ich gern das Leben eines Bohemiens lebe, meine Zeit verstreichen lassen und mir die Nächte um die Ohren geschlagen. Dann merkte ich: Jetzt musst du sehen, dass du dein eigener Sklavenhalter wirst. Das habe ich gelernt. Ich habe am Theater gearbeitet, bei einem sehr großen, wichtigen Mann in der DDR: Heiner Maaß – mein Zuchtmeister. Man durfte keine Minute zu spät kommen, wenn die Probe um zehn begann, musste man halb da sein, und wenn nicht, gab es einen Riesenkrach. Es hängt mit Disziplin zusammen, dass man den Mut hat, alles auf eine Karte zu setzen. War das damals leichter?
Es ist immer gleich schwer. Es gibt äußere Unterschiede, ja. Aber der Tag begann auch früher am Morgen und endete in der Nacht. Das Leben ist heute teurer, das ist vielleicht einer der Unterschiede. Aber ich denke auch, dass heute oft diese Leidenschaft zum Eigenentwurf nicht zustande kommen kann, weil die Gesellschaft nicht das Gefühl vermittelt, die künstlerische Erkenntnisweise zu brauchen. Es ist ja eigentlich ein ornamentaler Quatsch, den wir machen, verkommen in den Zusammenhängen von Marktmechanismen.
Was war in der DDR anders?
Da war der Weltgeist immer da. In allen Gesprächen mit Kollegen hatte man immer das Gefühl, in einem historischen Brennpunkt zu sein. Es ging immer um diese künstlerische Erkenntnis. Das macht es dir leichter, einen Entwurf zu haben und ein bisschen größenwahnsinnig zu sein als hier, wo man danach guckt, wo die Marktlücke ist.
Bilder des rastlos Wandernden spielen eine wichtige Rolle in Ihren Liedern. Sind Sie ein Getriebener?
Ich glaube, dass ich immer auf Suche bin, wie ein Matrose. Das Fernweh erobert mich stetig. Über hundert Tage im Jahr bin ich auf Tournee. Da lebe ich wie ein Vagabund, ziehe von einem Hotel zum anderen. Alles, was ich habe, passt in eine kleine Tasche.
Bedeutet Ihnen der Begriff »Heimat« etwas?
Ich habe seit den siebziger Jahren einen kleinen Bauernhof in Ostvorpommern. Das war mein erster Exilort, als ich lernen musste, dass der übermäßige Rausch zerstörerisch ist. Nicht nur, um gesund zu bleiben, auch, um anders, kühler zu denken. Ich befinde mich dort auch in einer anderen sozialen Realität, nicht in der von Künstlern, sondern in einer von Leuten, die ganz normal ihr Leben führen und die ich dafür sehr achte. Gerade zu Zeiten der DDR war das für mich ein wichtiges Regulativ. Wenn du dich nur mit Intellektuellen umgibst, verlierst du etwas von der Welt. Und so ist das ein Stück Heimat für mich geworden. Seit ein paar Jahren geben Sie dort auch Konzerte.
Daraus ist jetzt ein Projekt gewachsen, das Sie auf Ihrem Berliner Konzert am Donnerstag vorstellen wollen. Worum handelt es sich dabei? Immer im Sommer spiele ich in der Nähe des Ortes, in dem ich dort wohne, für wunderbare Leute zum Tanz. Die haben ihr Hafenfest, und da wollen sie feiern. Als sie mich vor ein paar Jahren fragten, ob ich für sie spielen würde, hab ich mir zuerst ein paar Standard-Schlager angeguckt, aber das war mir alles zu blöd. Da hab ich gedacht: Schreibst du selbst ein paar. Mich interessiert das Triviale sehr. In die triviale Form muss man wenig Subjektivität hineinpacken, weil es klare funktionale Mechanismen gibt. Also habe ich 22 Standard-Tänze geschrieben in meiner Art: Walzer, Foxtrott, Tango, chinesischer Pop, Country-Musik. Mit eigenen, sehr skurrilen Texten, die teilweise etwas Idiotisches haben. Da ist ungewollt ein eigenartiges Maß an Anarchie und Punk hineingeraten. Ich habe das wirklich nur für diese Abende geschrieben, ohne jeden Plan. Aber das Material reicherte sich von Jahr zu Jahr an – und jetzt, drei Tage nach dem Berliner Konzert, will ich das als CD einspielen.
Haben die Leute in Ostvorpommern diese Abende genossen?
Die haben immer bis nachts halb zwei getanzt. Das sind wirklich Lieder, zu denen man tanzen kann. Tanzen auf dem brodelnden Vulkan, obwohl man weiß, die Welt geht unter. So ein bisschen Trotz ist da drin. Dieses Material spiele ich in Berlin zusammen mit meiner Band. Vorher trete ich eine Stunde solo auf, um meine aktuelle Platte »Wenzel : Solo : Live« vorzustellen.
Ihre Musik ist zuweilen »Volksmusik« genannt worden, auch von Ihnen selbst. Was ist das für Sie?
Volksmusik, nicht so, wie sie heute die Fernsehsender als gezähmte Popmusik verkaufen, sondern in einem elementaren Sinne, versammelt musikalisch Lebenserfahrungen, bündelt sie in einer Form, die offen ist, dialogisch. Volksmusik benötigt nicht das Subjekt des Produzenten als Zentrum oder Label. Das Produkt, das Gebrauchsspuren benötigt, steht an erster Stelle. Ich suche immer nach Verbündeten in der Geschichte, die eine ähnliche Haltung haben: Theodor Kramer, Woody Guthrie – die haben ihre Lieder für die Zuhörer geschrieben, die sie brauchten, nicht um zu zeigen, wie schick sie sind oder was sie alles können. Sie haben ihre Fähigkeit in einen allgemeinen Dienst gestellt. So sehe ich mich auch.
Neben Guthrie und Kramer gibt es eine Reihe anderer Poeten, deren Texte Sie vertont haben.
Wir haben damals mit »Karls Enkel«, nachdem wir zwei Produktionen mit eigenen Texten hatten und merkten, dass wir möglicherweise in einen Provinzialismus hineingeraten, damit angefangen,fremde Texte zu verwenden. Wir hatten nicht die weite Welt zur Verfügung, wir konnten nirgendwo hinfahren. Man neigte dazu, seine unmittelbaren kleinen Probleme zu den großen Tragödien der Welt zu erklären. An diesem Punkt haben wir mehrere Jahre lang nur »tote« Autoren bearbeitet. Anhand dieser Autoren haben wir versucht, in der Geschichte Witz zu entdecken, auch den anderen Blick. Wir haben Goethe gemacht, Becher, Mühsam. Da wir nicht in die Welt reisen konnten, sind wir in die Geschichte gereist. So habe ich sehr zeitig begriffen, dass das ein unglaublicher Kraftquell ist, weil er mich verunsichert, mich aus meinem Produktionsschema herausbringt. Wenn man mit anderen Texten arbeitet, entdeckt man etwas. Man traut sich, andere Melodien zu schreiben, zu denen man bei den eigenen Texten nicht kühn genug wäre, weil man die Texte nicht für gut genug hält. Hinzu kommt, dass man eine Art Poetenrepublik aufmacht. Auf einmal hat man einen Freundeskreis.
Das Clowns-Dasein ist ein wesentlicher Bestandteil in Ihrer Biografie. Gibt es das Clowneske auch in Ihrem heutigen Schaffen noch?
Ja, das glaube ich schon.
Was ist das?
Es ist manchmal ein naives Spiel mit Sachverhalten, eine andere Logik als die gängige. Das mache ich immer, das ist meine Denkart. Das Kostümieren selbst halte ich für überflüssig im Moment, weil sich die Leute jeden Tag selber kostümieren. In der DDR hatten alle den Wunsch, sich selbst zu finden. Da haben wir gesagt: Na, dann sind wir eben nicht wir, sondern irgendwelche Trottel, die diesen Fetisch der Subjektivität unterlaufen. Jetzt muss man das andersherum machen.
Heute besteht die Kostümierung des Clowns darin, kein Kostüm zu tragen?
Es herrscht ja permanenter Fasching in diesem Land. Die Leute verkleiden sich immerzu. Die Mode zwingt zu absurden Klamotten, die eben mal gerade in sind. Werden Sie wehmütig, wenn Sie an die Zeit mit Steffen Mensching zurückdenken?
Nein, wir haben das ausgeschöpft, so weit es ging. Gibt es noch Gemeinsamkeiten, halten Sie Kontakt?
Wenig. Wir haben über 22 Jahre zusammengearbeitet. Ich habe mit keinem anderen Menschen so oft zusammen gefrühstückt wie mit Mensching. Das ist etwas ganz Normales, dass man dann eine Weile die Ferne sucht. Es hängt aber auch damit zusammen, dass man immer einen gemeinsamen Entwurf haben muss. Es muss eine dritte Sache geben, eine Utopie, die nicht ausgesprochen zu werden braucht. Dann funktioniert alles. Die Utopie von uns beiden war an die DDR gebunden. Sie hatte dort ihren Ursprung. Wir haben noch über elf Jahre danach unsere Fans begleitet. Dann war es ausgereizt. Das Komische in dieser Form existiert nicht mehr. Im heutigen Lachen gibt es kaum etwas Tragisches, und dadurch auch keine Anarchie. Übrig geblieben ist die Fratze der Comedians. Da triumphiert der berechnete Gag, die journalistische Pointe. Mit Komik hat das nichts zu tun. Aus welchem Antrieb entstehen Ihre Lieder?
Es gibt zwei Ausgangspunkte, zu schreiben: Zorn und Liebe. Zorn ist das erste Wort der »Illias«. Man will mit diesem Zorn einen Stachel in das Fleisch schlagen, will die Wunde aktivieren, das Schmerzhafte dieser Welt wieder aufrufen. Es ist die Pflicht des Künstlers, nicht zuzulassen, dass dieses Schmerzhafte aushaltbar wird. Solange man noch schreiben und sprechen kann, gibt es ein kleines Maß an unklarer Hoffnung.