Der Autor und Musiker Hans-Eckardt Wenzel über philosophische Raucherpausen, Diskussionsattacken, jugendlichen Größenwahn und den Zwang, Hegel zu lesen.
Hans-Eckardt Wenzel (*1955) studierte von 1976 bis 1981 an der Humboldt-Universität zu Berlin Kulturwissenschaften und Ästhetik. Er ist Mitbegründer des „Liedertheater Karls Enkel“. Der heute freischaffende Autor, Sänger, Musiker, Schauspieler und Regisseur erarbeitete zusammen mit Steffen Mensching Bühnenprogramme, wie die Vor-, Wende- und Nach-Wendestücke „Neues aus der Da Da eR“ (1982), „Altes aus der Da Da eR“ (1989) und „Letztes aus der Da Da eR“. Er war im Herbst 1989 einer der Hauptverfasser der Resolution von Rockmusikern und Liedermachern, die Veränderungen in der DDR forderten. Jörg Wagner und Heike Zappe im Gespräch:
Hans-Eckardt Wenzel, woran erinnern Sie sich zuerst, wenn Sie an Ihre Studienzeit in der Humboldt-Universität denken?
Es gibt so ein Bild: In den Vorlesungspausen von Professor Wolfgang Heise hat man an den Aschenbechern gestanden, die ich immer „silberne Ritter“ nannte; er rauchte seine Pfeife und unterhielt sich über alles, was von Hegel in die Gegenwart hinein langte. Das waren unglaublich intensive Momente für mich, diese Nähe zu einer von mir sehr geschätzten und geachteten Person. Ich habe deswegen auch mehrfach den Versuch, das Rauchen aufzugeben, nicht geschafft, weil ich die Gespräche an diesem Aschenbecher als etwas für mich sehr Wichtiges empfunden habe.
War dieses philosophische Gespräch eine Erfahrung, die Sie erst in der Uni gemacht haben, oder entdeckten Sie die intellektuelle Seite der Kunst und Kultur schon in der Schulzeit?
Das Interesse hatte ich immer. Aber ich stamme aus einer Kleinstadt, und deutsche Provinzmenschen leiden unter einer großen Hybris. Sie glauben, immer alles schon zu wissen. Ich bin auch mit so einem Ansatz in die Uni gegangen. Ich wollte eigentlich Lehrer werden, für Kunsterziehung und Mathematik. Es gab in der DDR so genannte phoneatrische Gutachten, das heißt, die Stimme wurde untersucht. Ich hatte in meiner Jugendzeit in einer Rockband gesungen und habe mir bei „Satisfaction“ einen schweren Stimmknötchenbefall zugezogen. So hieß es: Sie können nie länger als zehn Minuten sprechen, sie können kein Lehrer werden. Dann habe ich was gesucht, das abstrakt klang – und „Ästhetik und Kulturwissenschaft“ klang abstrakt. Ich ging nach Berlin und hatte eigentlich vor, nach zwei Monaten das Studium abzubrechen, wie sich das gehört als Künstler, um freischaffend zu werden. Als ich dann die ersten Wochen da war, begriff ich, was ich alles nicht weiß und wie dumm ich bin. Welchen Hochmut ich besaß, über Dinge zu sprechen, über die ich nichts wusste.
Was genau hat Sie veranlasst, Ihren geplanten zweimonatigen Studienaufenthalt zu verlängern?
Als ich Hegel, Kant, die klassische Philosophie gelesen hatte, die ästhetischen und Theaterkonzeptionen, versetzte mich das in eine unglaubliche Unruhe. Ich stand eigentlich in einem ganz anderen Zusammenhang in der Welt, als ich aus dieser Kleinstadt dachte. Dann setzte die Disziplinierung bei mir ein, die die Humboldt-Universität Berlin bei mir erzeugte. Ich habe wirklich gelernt, wissenschaftlich zu lesen und wissenschaftlich zu denken. Was mir heute noch anhängt: Ich bin nicht in der Lage, ein Buch einfach aus Genuss zu lesen, ich exzerpiere dauernd. Das ist natürlich auch ein Fluch. Aber diese gedankliche Schärfe habe ich da gelernt, bei unglaublich großartigen Lehrern.
Sie sind in der Nähe der Lutherstadt Wittenberg aufgewachsen. Hat sich Ihr musisches Talent in Ihrem elterlichen Milieu herausgebildet?
Meine Eltern sind beide Lehrer. Es war ein sehr kultivierter Umgang mit Literatur und Musik. Mein Vater ist auch Maler. Er hat grundsätzlich Brecht-Songs gehört, wenn er malte: „Ein Schiff mit acht Segeln …“ Damit bin ich groß geworden.
Wie entwickelte sich der Wunsch, auf die Bühne zu wollen oder Darsteller im weitesten Sinne zu werden?
Ich habe sehr zeitig angefangen Texte zu schreiben. Ab der zweiten Klasse hatte ich irgendwie das Gefühl, das ist mein Zuhause; und ich konnte in der Schule einmal in der Woche meine Gedichte vortragen. Bis ich dann irgendwann von dem Pionierleiter „entdeckt“ und auf die politische Schiene geschoben wurde. Ich habe dann „Auftragsgedichte“ gemacht – zum Frauentag, zum Tag der Armee – und bin da sehr gefeiert worden als junger, blond gelockter Knabe, der dichtet.
Gab es in Ihrer Heimatstadt Vorbilder für Sie? Ich bin als Schüler zu dem einzigen verfügbaren Schriftsteller in dieser Kleinstadt geschickt worden, Hans Lorbeer, einer der sozusagen aus der proletarisch-revolutionären Dichtung kommt. Dem legte ich meine politischen Texte vor, und der machte mich rund, sagte, das ist verlogen, das hat mit Poesie nichts zu tun. Ich hatte noch ein Gedicht über einen Teddybär, und das fand er gut. In dieser Unordnung wuchs ich auf und habe sehr zeitig gesungen, eigene Liederabende gemacht und kam in große Kollision mit den Leuten in der Stadt. Teilweise durfte ich wegen meiner langen Haare nicht auftreten, dann wegen der Jeans nicht und dann wegen der Lieder. Ich merkte, dass die Enge mich unglaublich aggressiv machte. Ich wusste, ich muss aus dieser Stadt weg, ich muss irgendwie in die Welt aufbrechen. Aber was hatte man in der DDR für eine Möglichkeit, in die Welt aufzubrechen (lacht) außer als nach Berlin oder Leipzig zu gehen? Mehr Welt gab’s nicht.
Und Sie entschieden sich für Berlin …
Ich hatte mich informiert, welche Auffassungen in der Kulturwissenschaft in Leipzig und welche in Berlin vorherrschten. Die Berliner waren mir viel näher. Es hatte etwas Aristokratisches an dieser Sektion [Ästhetik/Kunstwissenschaften]. Man immatrikulierte nur alle zwei Jahre und – da würde heute jeder Tränen in den Augen kriegen – sie hatten Seminare oder Oberseminare, wo wir zu dritt waren. So eine Intensität war im Grunde traumhaft.
Sie mussten ein Bewerbungsschreiben verfassen und wurden zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen. Wissen Sie, warum man Sie angenommen hat?
Ich habe ihnen erzählt, dass ich schreibe. Vielleicht hing es damit zusammen. Die Sektion hatte Interesse an kreativen Leuten und nicht irgendwelche Funktionäre herstellen oder Leute, die willfährig etwas machen. Vielleicht war es auch, dass ich ein bisschen vom Größenwahn getragen war. Ich war mir irgendwie sehr zeitig sicher, dass ich als Künstler freischaffend existieren werde. Und wenn es mit dem Studium nicht geklappt hätte, hätte ich das gleich gemacht.
Sie wussten am Anfang, dass Sie wieder zurück auf die Bühne wollten. Das Kulturtheoriestudium war doch eher dazu geeignet, Kulturhausleiter herauszubilden und nicht um Künstler zu werden?
Ich war sowieso der Meinung, dass man Kunst nicht studieren kann. Interesse, an der Literaturhochschule zu studieren, an der Schauspielschule oder an der Musikhochschule, hatte ich nicht. Das kann ich mir selber beibringen. Was man studieren kann, ist eine intellektuelle Handwerklichkeit. Was mich interessiert, ist der Diskurs, um mich zu verunsichern und auf anderes einzusetzen. Deswegen war mir diese Sache viel näher.
Während des Studiums, nach drei Monaten schon, haben Sie aus dieser Sektion heraus die Liedertheatergruppe „Karls Enkel“ gegründet. Das war 1976.
Das war das Wichtigste in der Zeit für mich – erst die Gruppe, dann das Studium. Man saß jeden Abend in der Woche zusammen, hat über irgendwas geredet hat, Texte geschrieben und geprobt. Und das Erstaunliche war, dass das auch von der Sektion toleriert und unterstützt wurde. Das ging soweit, dass ich denen gesagt hatte, ich komme jetzt zwei Monate nicht in die Uni, um zu schreiben. Sie sagten, okay, du musst das dann nachholen.
Die Gruppe „Karls Enkel“ trägt im Namen ein offensichtliches Bekenntnis zur marxistischen Lehre, allerdings mit der kleinen ironischen Bemerkung, die Enkel fechten es anders aus?
Wir haben den Namen nachher ein bisschen aufgeladen, weil sozusagen auch Karl Valentin aber auch Karl May für mich dazu gehört. Die Reduktion auf diesen einen Karl ist eher die ideologische Lesart, wie sie die Funktionäre hatten.
Aber Sie haben sich nicht dagegen gewehrt, oder?
Warum sollte man sich dagegen wehren? Ich halte Marx für einen der größten Philosophen, die es gibt. Uns nur auf das zu reduzieren, ist nicht richtig. Es war der Versuch, diesen Widerspruch zwischen empirischem Wahrnehmen einer Welt und den ideologischen Bildern darüber irgendwie auszulegen und ihn auszutesten. Wir kamen alle aus der Singebewegung. Da war das Ideologische vorrangig. Und dazu hatten wir keine Lust mehr. Wir haben versucht, nach anderen Impulsen anderen Textstrukturen zu suchen. Die Commedia dell’arte, das Volkstheater, war mir sehr nah. Mit solchen Mitteln haben wir sehr dilettantisch versucht, etwas zu vermitteln, was es so nicht gab. Das funktionierte auf eine erstaunliche Weise, weil es den Hunger von Intellektuellen nach einer bestimmten Kunst auf einmal befriedigen konnte.
Aus dieser Zeit stammt Ihr Lied „An Mich, Nachts“. Es handelt von der Existenz eines Studenten in einer Hinterhofwohnung, wenn er schlaflos über die Welt nachdenkt.
(Wenzel spielt das Lied auf dem Klavier und singt.)
Es hat so eine melancholische Seite. War das der Sound Ihres Studiums – melancholisch?
Ganz und gar nicht. Es war immer eine klare, kühle Analyse von Verhältnissen. Dieses Melancholische, fast auch Weinerliche, wurde einem ausgetrieben, was ich als angenehm empfand. Es war immer der Gegenentwurf. Ich kann mich an eine Seminarfeier erinnern, wo es dazugehörte, dass ich auch was gesungen habe; mein Professor Heise nahm mich beiseite und sagte: Pass auf dich auf, du darfst da nicht absacken. So sehr kameradschaftliche Anmerkungen, wie man mit seinem Überdruss umzugehen hat.
War Wolfgang Heise die Orientierungsfigur in Ihrem Studium oder erinnern Sie noch andere wesentliche Persönlichkeiten, die Sie irgendwie geprägt haben?
Viele. Ich habe bei Heise meinen Abschluss gemacht. Er ist eine zu Unrecht unterschätzte Person, die kaum noch wahrgenommen wird. Er ist der Inspirator gewesen für so viele Leute wie Christa Wolf oder Volker Braun. Seine Hegel- und Hölderlin-Vorlesungen waren Offenbarungen für mich, ein so bescheidener, kluger und analytischer Mann, wie ich es selten erlebt habe. Auch von der menschlichen Haltung her. Dann ist für mich Karin Hirdina eine ganz wichtige Person gewesen, auch eine ganz scharfe Denkerin, die einem die schlechten Arbeiten um die Ohren gehauen hat. Auch Günter Mayer und Erwin Pracht, ein alter Teddy sozusagen, Klassische Ästhetik. Selbst Professor Lothar Kühn, der Marxistisch-Leninistische Philosophie gelesen hat, freitags früh um Acht, wo kein Mensch hinging, ist eine der interessantesten Personen; da habe ich sozusagen das Pflichtfach von einem Verrückten bekommen, der so über die Welt nachgedacht hat, dass ich mich selbst mit Restalkohol um Sieben aus dem Bett gequält habe und an die Uni gegangen bin.
Wie haben Sie seinen Selbstmord wahrgenommen?
Er hat mich nicht überrascht. Diese Widersprüche waren permanent da. Mein Studienjahresleiter, Walter Hofmann, ist sozusagen auch aus dem Rennen genommen worden, mit seiner Verhaftung und allem. Dieses gab es, diese Aufregung und diese Not auch, gab es immer in dieser Sektion. Und die haben alle so gut wie möglich zueinander gehalten und versucht, immer mal ein Opfer zu bringen, um in Ruhe weiter arbeiten zu können. Man darf nicht vergessen, es wurde da im Grunde eine Studienrichtung und eine Wissenschaft kreiert, die es noch nirgendwo gab; ein Zusammenführen von sehr verschiedenen Momenten und Ansichten.
Das hört sich nach einer gewissen „Schizophrenie“ des Studiums an. Einerseits sprechen Sie mit sehr warmen und persönlichen Empfindungen über ihre alten Lehrer, andererseits gibt es diese Folie der Staatsdoktrin drüber und der Kampf darunter, Grenzen auszuloten. Wie kann man den Nachgeborenen erklären, was da ablief?
Man kann es so übersetzen: Es gab eine kleine Gruppe von Leuten, die sich dem allgemeinen Mainstream verweigerten. Die sich vielmehr der Wissenschaft verpflichtet fühlten als irgendwelchen ideologischen oder außen stehenden, angeschafften Rastern. Das ist das Gleiche in dieser Zeit. Es ist immer das Gleiche. In den einen Zeiten definiert es sich ideologisch, und in anderen ökonomisch. Aber es ist das Widerstehen gegen eine vorherrschende Antiintellektualität, die in Deutschland immer versucht, an die Macht zu kommen. Und wir leben auch in einer Zeit, die unglaublich antiintellektuell ist. Das nicht zuzulassen, sich zu berufen auf Traditionen, die mit unserem Denken zu tun haben, auf Hegel, auf die klassische antike Philosophie, dort Kraft zu holen, um dem Unsinn der Gegenwart trotzen zu können – das machen wenige Leute.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Schauen Sie sich die Philosophie an. Solchen Unsinn wie Herr Sloterdijk ihn loslässt, das ist einfach nur Mainstream für eine gedachte Oberschicht, wo man glaubt, man kommt an die Töpfe heran – oder an das Geld. Diesen Mut haben diese Leute aufgebracht und konnten ihn auf ihre Studenten übertragen. Sie haben uns stark gemacht, nicht darüber zu erschrecken, dass es so ist, sondern einen gewissen Eigensinn zu entwickeln und zu sagen: Ich beziehe mich auf den Originaltext von Marx, und schon sieht es anders aus.
Mit „Karls Enkel“ haben Sie sich 1983, im offiziellen Karl-Marx-Jahr, auf Marx direkt bezogen in dem Programm „Die komische Tragödie des 18. Brumaire des Louis Bonaparte nach Karl Marx oder Ohrfeigen sind schlimmer als Dolchstöße“.
Etwas Schöneres gibt es nicht, um diesen Zustand zu beschreiben. Wir haben eine Dramatisierung des Stückes hergestellt, und es wurde verboten. Mit Gutachten unserer Professoren haben wir es dann durchbekommen, dass wir es im Kulturbund einige Male spielen durften. Aber das ist genau dieser Widerspruch, den man heute vielleicht nicht mehr begreift – sich auf eine Tradition zu berufen.
In Marx’ „18. Brumaire“ gibt es das Zitat, dass sich Geschichte immer als Farce wiederholt. Hatten Sie schon damals die DDR als Farce empfunden? War die Auswahl dieses Textes die Hintertür, mit der Sie gegen die Verhältnisse protestiert haben?
Selbstverständlich. Das war die Revolution, die keine war, 1945 nicht so wie auch 1989 nicht. Man borgt sich Posen. Und das ist dieser geniale Satz von Marx. Hegel bemerkt irgendwann, dass sich alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen irgendwann wiederholen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Und natürlich war die DDR eine Farce, eine Operette. Dieses Bewusstsein zu formulieren, war aus dem Interesse an der wirklichen Tragödie, und nicht, um zu sagen, die DDR ist Scheiße. Das ist nur eine Wahrheit, aber indem man sich bezieht auf etwas, auf einen Wunsch, eine Gattung, die sich daran formuliert hat, oder eine Utopie, das ist etwas anderes.
Was war während Ihres Studiums möglicherweise eine Farce? Es gab die Lager der militärischen Qualifizierung…
Das war, glaube ich, die größte Tragödie, die ich erlebt habe. Das war auch schlimmer als die Armee. Wir waren in Groß Köris, und da habe ich auch ein Lied drüber geschrieben: „Es war in Groß Köris, am Arsch der Welt, wo die Sehnsucht im weißen Sand zerfällt…“ Es war aber deswegen schlimm, weil es von den Studenten aus der Sektion Kriminalistik die Offiziere waren. Die Ästhetiker hat man zu den Theologen gelegt, wir waren sozusagen die „Assigruppe“. Da stand ich kurz vor dem Exmatrikulieren, weil ich mir bestimmte Sachen dann nicht gefallen lassen habe und abgehauen bin über Tage. Aber irgendjemand hat die Hand drüber gehalten. Und was es dann noch gab, im zweiten oder dritten Studienjahr hatte ich eine Vorladung zum Direktor E und A, das hieß Erziehung und Ausbildung. Da waren vier Leute von der Stasi, die mich vehement werben wollten, als IM. Das habe ich abgeschmettert und bin dann längere Zeit von denen mit dem Hinweis bedroht worden, dass sie mich aufgrund meiner schlechten Studiendisziplin auch exmatrikulieren könnten. Mich hat irgendwie der Größenwahn davon abgehalten, dort irgendwas zu unterschreiben. Das ist eher so ein Stück, wo ich einen Moment unsicher war. Ich wusste nicht, was ich da mit meinem Leben anfangen will.
Haben Sie sich jemandem anvertraut?
Ich habe das zwei Leuten erzählt. Einmal der Karin Hirdina. Sie hat gesagt: Hände weg davon. Und ich habe es einem Freund erzählt, von dem ich dieses Klavier hab’, das ist ein alter Kommunist, Eberhard Schmidt, der war im Spanischen Bürgerkrieg und hat in Sachsenhausen im KZ gesessen und war sozusagen ein alter Haudegen. Er hat zum Beispiel „Ich trage eine Fahne“ komponiert. Er ist jemand, den ich bis in den Tod begleitet habe. Er kannte „die Jungs“ von den Frontlinien aus Spanien. Und er hat auch gesagt: Schmeiß sie immer raus! Beginn kein Gespräch mit ihnen. Das sind dann auch die Punkte, wo ich sage, das ist die Farce, die dann eigentlich schon eine Tragödie ist. Das würde ich neben dem Militärischen als das sehr Unangenehme beschreiben.
Im Nachhinein betrachtet, mit dem ganzen Wissen über die Stasi, hätte einer der beiden ihr Vertrauen ja auch missbrauchen können. Gab es in der DDR tatsächlich ein Gespür dafür, wem man trauen kann und wer sich möglicherweise einschleicht?
Ja. Das hatte ich sehr früh gesehen. Ich war in den ersten Geheimsitzungen der Prenzlauer Berg Lyriker und ich wusste genau, wer bei der Stasi ist. Irgendwann hatte man einen Instinkt dafür. Die Hälfte der Leute hat für die Stasi gearbeitet, die immer Zeit hatten, die immer Geld hatten, eine ganz komische Art, sich zu verhalten.
Sie begannen zu einem Zeitpunkt zu studieren, an dem die DDR Schwäche zeigte, nämlich mit der Biermann-Ausbürgerung, im November 1976. Man verlangte auch von Professoren und Dozenten ein Bekenntnis. Haben Sie solch ein Spannungsverhältnis als Student mitbekommen?
Wir hatten als Studenten den Anspruch, eine Gegenresolution zu schreiben. Die Professoren haben gesagt, sie verstehen das; es wäre die Frage, ob es sinnvoll ist, von unserer Position aus. Man könnte sich an andere mit ran hängen, aber es wäre so, dass die, die im ersten Studienjahr eine Resolution schrieben, raus wären und fertig ist es. Das ist einfach nur so eine Pose von Selbsteitelkeit. Damit ändert man in diesem Vorgang nichts. Das haben wir nicht gleich hingenommen. Wir haben lange diskutiert. Diese Resolution wurde sozusagen im Kern in der Uni weiter geleitet. Wir haben sie nicht veröffentlicht, aber sie wurde zumindest von den Professoren weitergeleitet, als die Meinung dieses Studienjahres. Dann ging es Schlag auf Schlag: Die Sowjetunion marschierte 1979 in Afghanistan ein, in Polen entstand 1980 aus einer Streikbewegung die Gewerkschaft Solidarność, der nächste Parteitag der SED 1981 versprach auch nicht so viel Hoffnung, dass die DDR sich aus dem Sumpf befreit, es war eine gewisse Agonie, gepaart mit einer ziemlich aggressiven Innen– und Außenpolitik. Sind Sie mit „Karls Enkel“ permanent Konfrontation gelaufen? Wir haben bis 1979 mit „Karls Enkel“ eigene Texte gemacht. Das ging schon ab 1978 nicht mehr richtig auf. Die Produktionen wurden verboten. Dann haben wir uns an „tote Dichter“ gehalten. Wir haben versucht, einen Mühsam-Abend in der Volksbühne auf die Beine zu bringen. Er wurde von der SED-Kreisleitung der Universität verboten. Wir haben es mit Tricks versucht: Der Kulturminister Höpcke hatte ein gewisses Interesse an unserer Sängerin, wir luden ihn zur Premiere ein, und dann kam er offiziell, so war es Protokoll und die Veranstaltung musste stattfinden. Wir haben uns mit dem Material aus der Zeit des Sozialistengesetzes aufgeladen, damit man nicht, wie Heise es sagte, in der „Fetischisierung der Unmittelbarkeit verkommt“. Das darf man nicht zulassen, sagte er, denn das ist eine Gefahr. Dann wird man klein. Dann nimmt man die Größe des Gegenstandes an, den man bekämpft. Man muss größer sein.
Wie hat sich das in Ihrer künstlerischen Arbeit niedergeschlagen?
Ab den 80er Jahren haben wir das Konzept, vielleicht auch durch die historische Arbeit, vollkommen geändert. Wir haben gesagt, wir wollen hier nichts mehr verbessern, wir wollen die Widersprüche verschärfen! Wir müssen die Verhältnisse zum Tanzen bringen. Das ging alles auf diese „Hammer=Rehwü“ hin, wo man überhaupt keine Message mehr hatte, sondern nur noch den Wahnsinn dadaistisch formuliert hat. Es lief auf die Theaterform hinaus, die ich mit Mensching entwickelt hatte, „Allerletztes aus der DaDaeR“, das nicht mehr ideologisch aufschlüsselbar war. Es waren Clowns, es waren Fratzen, und man konnte den Funktionären sagen: Ja, glaubt ihr denen?! Die da mit zerrissenen Klamotten und bemalt, ihr könnt denen doch nicht glauben, das sind doch keine richtigen Leute, das sind doch Spinner, die wir da spielen.
Wie haben Sie gelebt in dieser Zeit? Sie waren ja nicht mehr nur für sich allein verantwortlich …
Ich habe nicht sehr gut existiert. Ich war verheiratet, hatte ein kleines Kind und habe in einer Hinterhofwohnung in der Dimitroffstraße (heute Danziger) gewohnt, Außenklo, unbeheizte Küche, in der ich komponiert und geschrieben habe. Alle Versuche, eine ordentliche Wohnung zu bekommen, scheiterten. Meine Frau hat Chemie studiert und wir haben mit dem Kleinkind in einem Zimmer geschlafen, die ganze Studienzeit lang. Das ist auch etwas, wo ich insistiert habe, ob mir da nicht geholfen werden kann, angeblich als Künstler. Da passierte gar nichts. Irgendwann habe ich mich damit abgefunden, du hast eben keinen Anspruch auf irgendetwas. Dann können sie mir auch den Buckel runterrutschen.
Und das berühmt-berüchtigte Studentenleben? Es wurde doch bestimmt auch gefeiert in der Sektion Ästhetik/Kunstwissenschaften…?
Darüber spricht man nicht, aber es gab schon diese Momente, wo man sich um 10 an der Uni getroffen hat und gesagt hat „Weeste was, das ist ein Tag zum Durchsaufen!“ und man geht in die Kneipe und trinkt bis abends. Ich war die ganze Zeit auch permanent auf Tournee, jedes Wochenende. Man hat sowieso ein sehr exzessives Leben geführt. Es war nicht gesund, unter uns gesagt (lacht). Es war eine angenehme Zeit, aber sie ist nicht viel anders, als ich sie jetzt erlebe (lacht nochmal). Es war die Zeit, wo die Gaststätten um 24 Uhr schlossen und man auch keinen Alkohol mehr kaufen konnte. Es spielte sich alles in den Wohnungen ab. Jeden Abend war man bei irgendjemandem eingeladen. Irgendwo hat man gekocht, gegessen, diskutiert, oder jemandem geholfen, der die Feuerbach-These nicht verstanden hat. Man war immerzu in einem permanenten Austausch und lief irgendwann, da es keine Taxis gab, nachts um Drei durch die Stadt, kilometerweit, um in seine Wohnung zu kommen. Es ist eine Lebensform, die sehr stark auf jene Räume bezogen war, wo jemand eine Wohnung hatte und man sich zurückziehen konnte. Das passiert heute alles mehr in Gaststätten und öffentlichen Räumen. Welche Orte sind Ihnen – neben den Raucherpausen am „silbernen Ritter – am meisten in Erinnerung? Das Wichtigste waren diese Treffen im „Café kaputt“. Unter den Linden, Ecke Friedrichstraße, stand früher ein Hotel mit einem Café, da war die ganze intellektuelle Schiene. Dort traf man sich grundsätzlich nach den Vorlesungen oder Seminaren und redete. Da haben wir Texte geschrieben, gearbeitet, Seminare miteinander vorbereitet. Dann sind es die Bibliotheken. Einer der für mich schönsten Räume, wo ich Seminare hatte, war das Winckelmann-Institut, die Klassische Archäologie. Wenn man da die Türen hinter sich zugemacht hat, war man in einer völlig anderen Welt. Auch die 11. Feuerbach-These, die im Flur stand, die ich sehr mag, das ist wirklich ein guter Text. So eine große, altehrwürdige Universität, Hegel war da – ich habe das sehr genossen, diese Atmosphäre.
Konnten Sie alle Bücher lesen, die Sie wollten?
Ja. Ich hatte zunächst begonnen, meine Diplomarbeit über faschistische Lyrik zu schreiben. Mich hat das mal interessiert. Und ich habe alle „Giftscheine“ bekommen, ich konnte alles lesen. Mir ist dann bloß körperlich so schlecht geworden von diesem Mist, dass ich das abbrechen musste. Ich habe dann eine Arbeit über Theodor Kramer geschrieben. Das war der Hinweis meines Professors, als ich gesagt hatte, ich kriege die Arbeit nicht hin, ich habe Magengeschwüre, ich träume schlecht, das macht mich krank. Da hat er gesagt, dann machen sie es wie in der Medizin, impfen sie einen Antistoff. Nehmen sie einen Antifaschisten. (lacht) Wenn sie jetzt zurückblicken als jemand, der über 20 Jahre in einem anderen Land lebt, für das er nicht ausgebildet wurde, was können sie denn heute noch davon gebrauchen? Ich kann die Selbstdisziplin gebrauchen, die ich da gelernt habe. Diese Rücksichtnahme gegenüber anderen Sachen. Eine Ehrfurcht, das klingt sehr konservativ, eine Ehrfurcht vor der Geschichte und was darin gedacht wurde. Das habe ich immer noch. Ich lese lieber in Hegel als in Gegenwartsliteratur, wenn ich Zeit habe. Und eine Haltung, dass man sich nicht geschlagen geben muss, wenn man meint, man ist nicht auf der Siegerseite. Die Universität als ein Ort, wo man zu denken und zu überleben lernt? In dieser Zeit bildet man seinen Charakter sehr, man ist noch stark vom pubertären Protest getragen. Das gehört nun einmal dazu. Aber das andere ist, dass man in der Universität ein Stück Freiheit gelernt hat, mit der man selber umgehen lernen muss. Das ist wichtig: Geht in die Theater, ihr seid jetzt hier in der Stadt, ihr habt fünf Jahre Zeit. Das habt ihr nie wieder, wenn ihr arbeiten müsst. Genießt es! Und wenn ihr nicht kommen wollt, kommt ihr nicht! Oder: Einen Text zu analysieren, das macht Mühe. Man liest ihn lieber so. Aber ihn fünfmal zu lesen, um dann darüber zu reden und dann noch etwas Neues zu entdecken, das ist eine handwerkliche Prägung. Das Menschliche gehört dazu: dass man seine Lehrer verehrt, dass man eine Achtung vor ihnen hat, dass man sich sein ganzes Leben immer dümmer glaubt als die Lehrer, selbst wenn man viel gelernt hat; selbst, wenn sie gestorben sind, bleiben das für mich unglaubliche Denker. Dieses Verhältnis hat die menschliche Kultur geprägt. Deswegen sind die Universitäten in der Form entwickelt worden!
Als was sehen Sie die Hochschulen heute?
Jetzt sind es größtenteils Fertigungsanstalten von Personen, die irgendwo vernutzt werden in der Gesellschaft. Aber ich glaube, dass es genau auch um diese menschliche Bildung geht. Dinge zu lernen, zu unterscheiden, was wichtig ist, und was nicht wichtig ist.
Wie kann man die Energie einer Uni für sich positiv nutzen? Woran kann man sich orientieren?
Man muss sein eigenes Interesse definieren können. Was mich wirklich interessiert, da bin ich gut, da bin ich stark, wenn ich mir dazu die Partner suche, bei denen ich das finden kann. Wenn ich aber das übernehme, was andere meinen, was ich tun sollte oder wo man gerade einen guten Job bekommt, dann komme ich vielleicht auch gut durch, aber ich bin nicht bei mir, sondern ich trickse mich von Anfang an aus. Dann ist die Universität etwas Schwaches. Dann fordert sie nur Leistung von mir ab. Aber wenn ich herausfinden kann, wo ich am besten bin und meine Energie da für mich bündele, dann gelingt es mir, Kraft zu entwickeln aus solchen Universitäten.
Gibt es Begegnungen mit Kommilitonen oder Dozenten, die über das Studium hinaus Bestand haben?
Ich habe mit vielen über Jahre noch Kontakt gehabt. Ich habe zum Begräbnis von Karin Hirdina gesungen. Wir haben eine Totenfeier für Professor Günter Mayer gemacht, der im vorigen Jahr gestorben ist. Einer meiner besten Freunde hat sich um den Heise-Nachlass gekümmert. Diese Nähe gibt es immer noch, von beiden Seiten, sowohl dass die Dozenten immer an dem dran waren, was ich gemacht habe, sie haben meine Bücher gelesen, sie haben meine CDs gehört, sie sind zu unseren Vorstellungen gekommen. Man blieb immer im Kontakt. Auch kritisch, wo man dann sagte „da haste Mist gemacht“
Das Gespräch führten Jörg Wagner und Heike Zappe im März 2011.