Eines Tages tropfte es aus Wolfram Bodags Zimmerdecke. Die Wohnung über ihm im vierten Stock stand leer. Er friemelte die Tür auf und betrat eine böse Bude: kaputte Fenster, Regenwasser, Müll und tote Katzen. Bürger Bodag meldete die Zustände der Ostberliner Wohnungsverwaltung und verreiste. Die Behörde befahl Räumung und entsandte die Brigade Gründemann. Der Brigadier, dem auch der Keller Stockwerk war, zählte souverän bis vier, knackte Bodags Wohnung auf und räumte wie geheißen. Bodags Habe, auch die Plattensammlung, flog auf einen Hänger, von dem sich alsbald die Nachbarschaft bediente. Ja, an Bluesthemen litt die DDR nicht Mangel.
Bereits die erste LP von 1978 machte Wolfram Bodag und seine Band Engerling zu Ostblues-Autoritäten, falls sie dazu überhaupt eine Platte brauchten. Wahren Ruhm erwarb man live. Engerling, 1975 gegründet, trug rasch das Ehrenprädikat der Tramp-&-Hippie-Szene: ehrliche Band. Blues und Charakter waren Synonyme. Der bemähnten Gemeinde galt Blues auch als Antiklang zum ideologischen Gedöns. Er wurde nicht einfach gehört. Man lebte ihn – eher melancholisch sich verweigernd als strikt in Opposition, aber unbedingt mobil, ständig auf Achse, mit Parka, Jesuslatschen, Hirschbrüllbeutel der Musik hinterher, die vorzugsweise im Süden des Landes spielte. Die Szene war hoch anspruchsvoll und egalitär, sie verlangte musikalisch feinstes Handwerk und gesinnungsbrüderliche Solidarität. Diese schwärmerische Zeit ist aufgehoben in „Bye bye, Lübben City“, der Erinnerungsbibel für „Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR“, die Michael Rauhut und Thomas Kochan 2004 bei Schwarzkopf & Schwarzkopf ediert haben.
Ostbands wurden auch geliebt in Vertretung der unerreichbaren West-Heroen. Den Bluesrock-Olymp bethronten ferne Götter – Jimi Hendrix, Johnny Winter, die Allman Brothers Band, Van Morrison, natürlich die Stones. Nur stiegen die nicht vom Berge, um in Weinböhla und Brand-Erbisdorf aufzutreten. Daselbst fand der DDR-Freak seine nahbaren Idole, dort spielten die Gitarrenhelden Jürgen Kerth und Hansi Biebl, der Folkblueser Stefan Diestelmann, die Klampfenheuler von Monokel… Und eben Engerling.
Ein pure Blues-Band ist Engerling nie gewesen, obwohl die Plattencover Fetische des Blues ausstellten. Auf dem Cover des Debuts schmolz eine Mundharmonika den Schnee und ließ Blumen blühen, auf „Tagtraum“ qualmte eine Stromgitarre. Engerlings frühe Musik klang John Mayall und Canned Heat verwandt, Blues-Mythologie garnierte Bodags Texte. „Mama Wilson“ war an die Mutter des 1970 gestorbenen Canned-Heat-Sängers Al Wilson adressiert, „Schwester Bessies Boogie“ romantisierte Bessie Smith. Heute wirkt derlei naiv; es war bewundernde Liebe, die auch das Publikum empfand. Für „Da hilft kein Jammern“ wurde Engerling sogar mit Plagiatsvorwürfen überzogen. Tatsächlich schmeckt der Song nach Willie Dixons „Don´t go no farther“, aber Zitat und Verfremdung sind Urprinzipien des Blues. Wer ihn spielt, will die Schubkarre nicht neu erfinden. Er macht sich geprägte Form zur eigen und entgrenzt sie mit body and soul. Vom puren Bluesschema haben sich die Engerlinge dann zunehmend emanzipiert. Ihr Blues war mehr Seelenfarbe als 12-Takt-Korsett.
Mein Lieblingsstück auf Engerlings Erstling ist der „Moll-Blues“, Heiner Wittes Gitarre wegen und weil sich in dieser langen Nummer erstmals Wolfram Bodags Poetik des Alltags ausbreitet. Bodags Texte haben keine Ambition zur Hochkunst; sie zeichnen Befindlichkeiten, sie bewahren Eigensinn und Freude an der schrägen Grübelei. Sie stärken das Ich, nicht das Ego. Was ihnen abgeht, ist Aggressivität und jegliche Rock-Mackerpose. Undenkbar auch, daß Bodag seine Getreuen mit karriereförderndem Auftrags-Schwulst á la „Rock für den Frieden“ entgeistert hätte. Ein politischer Song ist erhalten: Bodags Dylan-Adaption „Es kommen andere Zeiten“ (auf „Egoland“ von 1992), voll des oktoberrevolutionären Überschwangs, den keine spätere Depression und kein „Herbstlied“ aus unseren Leben streichen soll. Von allgemeinem Überschwang konnte wahrlich nicht die Rede sein, als ich Bodi im Frühjahr 1989 kennenlernte. Der SED-Staat bog gerade auf die Zielgerade ein, nur wußte das keiner. Noch waren die Kommunalwahlen nicht gefälscht, noch hatte Egon Krenz dem Tiananmen-Massaker nicht applaudiert. Honecker siechte im Amt, der ungarische Grenzzaun hatte noch kein Loch. Engerling veröffentlichte eben „So oder so“, die dritte Amiga-LP, acht Jahre nach „Tagtraum“. Ich wollte Bodag für den „Sonntag“ portraitieren; nach anfänglicher Skepsis stimmte er zu. Ein Interview im engeren Sinne gelang nicht. Bodag ist ein schweifender Geist, bewandert in vielen Künsten. Außerdem ging die mitgebrachte Bandkassette für die Überspielung von Ry Cooder und King Crimson drauf. Bodis Behausung schien eine Fahrradwerkstatt. Räder in jeder Ecke, Räder in der Decke und überall das köstliche Aroma von Gummi-Arabicum. Früher selbst aktiv, war Bodag nur zögernd vom Rennrad auf Musik umgestiegen. Ich blätterte im „Illustrierten Radrenn-Sport“ von 1932. Bodags Höhle war kalt. Er holte einen Heißluft-Puster und richtete ihn fürsorglich auf meine Füße. Dann korkte er den Roten auf. Durchaus mäkelnd redete er über die neue Platte: manche Texte nicht recht fertig, sein Gesang so überdeutlich, zu weit vorn. Ach, sowieso sei Engerling eine Live-Band. Er aber, Bodag, tauge nur bedingt für jene Rolle, die im Rock-Jargon martialisch Frontmann heißt. Zum Beleg tütete er eine Lieblingsplatte aus: Mitch Ryders „How I Spent My Vacation“. Das Detroiter Nebelhorn heulte „War“ und „Ain´t Nobody White Can Sing The Blues“, Bodag hatte Ryder, wie die meisten hierzulande, 1979 im Fernsehen entdeckt. “Rockpalast”, das berühmte Suff-Konzert in der Essener Gruga-Halle… Später schaffte es Ryder auch in Person über die Mauer, in den Ostberliner Palast der Republik. Am 18. Januar 1988 kontaminierte er den Kreml der sozialistischen Freizeitgestaltung mit seinen todeskundigen Hymnen. Bodag stand sich für Karten nachts die Beine in den Bauch, bei minus 15 Grad. Im Konzert, sagte er, sind mir die Tränen gekommen, wie bei Dylan im Treptower Park.
Nach der Wende wurde es erst mal ruhig um Engerling. Allen DDR-Bands ging es ähnlich. Das Ostvolk stillte seinen Durst nach Westen. Viel Ostmusik verschwand in der Kuriositätenkiste, manche Darbieter beschallen Neunfünfland unentwegt als Ostalgie-Ensemble. Anders Engerling. Aber nicht zu ahnen war eine Krönung der Bandgeschichte. Im September 1989 spielte Engerling auf dem Hamburger Rathausmarkt. Verblüfft hörte Karsten Schölermann, Mitch Ryders deutscher Booking-Agent, die Ossis Ryder-Songs covern. Er machte Kontakt, Engerling wurde Ryders europäische Band. Drei schöne Platten sind bislang daraus entstanden: 1994 „Rite of Passage“, 2003 „The Old Man Springs a Boner“ und im Jahr darauf „A Dark Caucasian Blue“. Ryder war perplex, als die Ostdeutschen zu den Proben pünktlich kamen und Noten malten. Dann action. Ryders Jericho-Organ trompetete den Urschrei aus „Freezin´ In Hell“. Bodag kippte hinterrücks vom Keyboard und schlug sich den Schädel auf. When the leaves fall than comes Mitch, sagt Ryder. Jahr für Jahr tourt er mit Engerling durch deutsche Lande. Jahr für Jahr muß ich sie hören, und die alten werden zu den jungen Zeiten. Ich nehme mein Mädchen und kutsche nach Halle, Bautzen, Plauen. Ryder & Engerling haben es auch nach Amsterdam, Paris, Madrid geschafft. Ryder singt wie ein Jim Morrison von sechzig Jahren, Bodi beorgelt die blauschwarze Messe, Manne Pokrandt baßt fett, Heiner Wittes Slidegitarre schwebt und schneidet durch die Nacht. Die Trommeln rührt seit der Jahrtausendwende ein Elsässer, Vincent Brisach.
2005 kam Mitch mit neuem Hüftgelenk. Ein Ende ist also gar nicht abzusehen. Light another cigarette. Engerling bleibt eine Instanz für Musik mit Wurzeln und Menschen mit Geschichte. Mögen sie leben, solange die Bäume grünen und die Haare grauen.