Verlorenes Land, vergessene Helden. Gerhard Gundermann, Rebell einst, ist sanfter geworden, doch seine Fans halten ihm die Treue

von Jeannette Otto, DIE ZEIT

SPREETAL. – Gundermann sieht aus wie immer. Die blonden Blassen, wie er einer ist, verstecken ihr Alter ganz gut unter der hellen Haut. Nur der Zopf in seinem Nacken wird immer dünner. Im hellblauen Haargummi stecken nur noch drei, vier Strähnen, die etwas verloren aus der Baseballmütze baumeln und bei jedem Schritt hin- und herwippen. Hinter den eckigen, viel zu großen Brillengläsern hüpfen die blauen Augen unruhig hin und her, dann aber suchen sie sich wieder einen Punkt, auf dem sie sich eine Weile ausruhen. Gundermann ist bekannt für seine riesigen Brillengestelle, deren Gläser die halben Wangen bedecken. Selbst auf Kinderphotos sind keine kleineren Brillen zu entdecken.

Wir stehen unter dem Himmel von Hoyerswerda. Klar und sauber ist er – und das war nicht immer so. „Wenn in Schwarze Pumpe mal wieder die Filter ausgefallen sind, dann hat es hier schwarzen Schnee gegeben“, erzählt Gerhard Gundermann. Seit ein paar Jahren nun schon fällt der Schnee wieder weiß, wenn er fällt, und seit einem Jahr hat Gundermann keine Kohle mehr in den Schuhen und kaum noch welche in den Lungen. Im Kreis Hoyerswerda haben alle Tagebaue dichtgemacht. Gundermann gehörte zu den letzten, die entlassen wurden. Als ich ihn vor vier Jahren nach einem Konzert in Jena getroffen habe, hat er sich noch darüber beklagt, daß die Jungen keine Arbeitsmoral mehr kennen. Da saß er noch fest in der Kabine seines Baggers, obwohl er genau wußte, daß er bald keine Kohle mehr baggern würde, sondern nur noch gelben Sand für einen Badestrand, an dem sich dann all die ehemaligen Kollegen von ihrer Arbeitslosigkeit erholen könnten.

Und weil Gundermann nicht nur Arbeiter ist, sondern auch Liedermacher oder Rockpoet, wie ihn manche nennen, hat er 1991 ein Lied geschrieben, von seiner Grube „Brigitta“, die Pleite macht – und so ist es dann auch gekommen. Vorbei die Zeiten vom „singenden, klingenden Baggerfahrer“, vom „Dylan des Tagebaus“, vom „Vorzeigeproleten“. Gute Zeiten eigentlich für den Künstler Gundermann, der gegen solche Charakterisierungen nicht mehr protestieren muß.

Aber er war nun mal der einzige Kohlekumpel in Ost und West, dem beim Baggerfahren so ganz nebenbei die schönsten Lieder eingefallen sind.

Ich hatte in den vergangenen Jahren nur aus der Ferne von ihm gehört, ihn ein paar Konzerte lang beobachtet, immer mehr seiner Fans an den unterschiedlichsten Orten getroffen, von seinen ersten Auftritten in Westdeutschland gelesen, mich gewundert und gefreut, als Gundermann und seine Band Seilschaft die Vorgruppe zu Bob Dylan und Joan Baez waren – und irgendwann wußte ich nicht mehr, was ich halten sollte vom ehrlichen Baggerfahrer Gundermann, der acht Jahre lang Spitzel der Stasi war. Trotzdem habe ich mir jede neue Platte von ihm gekauft, genau wie all die anderen, die von seinen Liedern nicht lassen konnten.

In der Dämmerung sieht der stillgelegte Tagebau Scheibe gespenstisch und endlos aus. Hier stehen noch drei Bagger, die auf ihre letzte Fahrt zum Schrottplatz warten. Gundermann ignoriert meine Ausrufe über die Riesenhaftigkeit der Geräte und sagt knapp: „Das sind die kleinen. Meiner war noch ’ne Nummer größer.“ Angst hätte er in all den Jahren nie gehabt vor diesen Ungeheuern aus Stahl: „Nur vor kurzem bin ich mit den Leuten von der Band noch mal oben herumgeklettert, da wurde mir dann plötzlich klar, daß einem da wirklich mulmig werden kann.“ Und als wolle er mein Staunen nun doch ein wenig teilen, sagt er noch: „Als ich das erste Mal zum Tagebau kam, es war Nacht und überall brannten Lichter – so weit man sehen konnte, drehte und bewegte sich etwas. Das war wie im Weltall, das werde ich nie vergessen.“ Und als Gundermann nach 22 Jahren Tagebau zum letzten Mal seinen Helm abnahm, den Spind abschloß und die Stiefel auszog, da hatte er nicht mal mehr einen Beruf: „Der ,Maschinist für Tagebaugroßgeräte‘, wie ich einer war, steht auf einer Liste von 160 ostdeutschen Berufen, die im Westen einfach nicht existieren.“ Dann schweigt er und geht zurück zum Auto.

Auf dem Rücksitz liegt ein Bühnenhocker aus Holz. Den hat er heute vom Meister zurückbekommen, mit einer Fünf. Seit ein paar Monaten drückt Gundermann wieder die Schulbank. Er macht eine Umschulung als Tischler, ohne jemals zuvor an einer Hobelbank gestanden zu haben. „Aber als mein Vater vor drei Jahren starb, habe ich beim Ausräumen seiner Wohnung drei Sätze Hobel gefunden. Da dachte ich, das muß ein Zeichen vom lieben Gott sein.“ Jetzt läßt er sich also wieder Noten geben. Mit 42 Jahren ist er einer der Ältesten in seiner Klasse. Stolz zeigt er mir später einen Schachtisch, streicht vorsichtig über die Intarsien, als könne er selbst nicht glauben, daß sie aus seiner Hand stammen. Das Haus von Gerhard und Conny Gundermann steht abgelegen in der ehemaligen Bereitschaftssiedlung in Spreetal, wenige Kilometer von Hoyerswerda entfernt. Jahrelang hat Gundermann im nahen Tagebau Spreetal gearbeitet und auf sein Haus zu gebaggert. Unterm Keller liegt die Kohle. Wenn nicht alles anders gekommen wäre, hätte sein Bagger sich irgendwann die schwarzen Klumpen geholt und das Haus dabei zerdrückt: „Ich hab‘ das Haus behalten und die Arbeit verloren. Ich weiß nicht, ob es mir andersherum lieber gewesen wäre, ich glaube nicht. Ich vermisse die Arbeit wirklich sehr, aber ich bin froh, daß unser Kind hier aufwachsen kann.“ Linda kommt die Treppe heruntergerannt. Sie behängt ihren Vater mit einem Armband voller kleiner, bunter Plastikperlen, die sie auf eine Schnur gefädelt hat. „Linda ist unser Nachzügler“, sagt Conny Gundermann und zwinkert dem Mädchen zu, das wie der Vater einen blonden Zopf trägt, nur ist der länger und viel dicker. Linda kam vor fünf Jahren, in einer Zeit, als Gundermann schon viel öfter an das Ende als an einen Anfang dachte. „Es war wirklich so, daß mein Leben in seiner Mitte noch einmal eine ganz neue Wendung nahm. Alles hatte sich verändert, ich wußte, daß es mit dem Tagebau zu Ende gehen würde. Da war ein Punkt, an dem ich mich fragen mußte, wer bin ich jetzt, und was fange ich an mit mir.“

Gundermann hat erst spät seine Familie gefunden, aber jetzt ist sie das Wichtigste, was er hat. Mit der Hündin Lisa im Arm, läßt er sich von Linda leise ins Ohr flüstern und ruft ihr später hinterher: „Gute Nacht, meine kleine Pampelmuse.“ Um Steffen und Yvonne macht er sich Sorgen, weil der eine keine Arbeit hat und die andere schon Mutter ist. Und da ist Conny, die zu Hause bleibt und sich um alles kümmert, auch um die Soloauftritte ihres Mannes. Sie träumt davon, irgendwann mal wieder mit Gundi auf der Bühne zu stehen, wie damals, als sie beide zur Brigade Feuerstein gehörten, einem in der DDR sehr bekannten Singeklub aus Hoyerswerda. „Wir wollen mal wieder etwas Gemeinsames für Kinder machen“, sagt Conny und schaut Gundermann fest entschlossen an. Die beiden wirken ein wenig wie Geschwister, so als wüßten sie alles voneinander, als wären sie auf alles gefaßt, was noch kommen würde.

Es gibt einen Film über Gundermann, den drehte Richard Engel 1982 in der DDR.

Da sitzt Gundermann zwischen all den anderen Langhaarigen der Brigade Feuerstein und redet hart und ohne Rücksicht über Disziplinlosigkeit, fordert bedingungslosen Einsatz und droht, die Gruppe zu verlassen und nur mit denen weiterzumachen, die alles geben, so wie er. Ein Schulfreund sagte damals in die Kamera: „Der Gundi ist viel zu autoritär, der kann die Leute nicht mitziehen, der tritt sie viel mehr, daß sie mitkommen.“ Damals war Gundermann Kämpfer, Rebell, Revolutionär. Wer sein wollte wie Che Guevara und Tamara Bunke, konnte keine Rücksicht nehmen auf Familien und Kinder. Als sich andere verliebten und ans Heiraten dachten, begann er Lieder zu schreiben und kaufte sich seine ersten Gitarren. „Als Gitarrist auf der Bühne ist man ja auch so was wie ein Held“, sagte er im Film. Der Traum vom Helden Gundermann fing eigentlich mit der Pistole seines Vaters an. Die war übriggeblieben aus dem Zweiten Weltkrieg, lag in einer Schublade, bis der zwölfjährige Gundermann sie fand und in die Tasche seiner Trainingshose steckte. Die Pistole hing bis zu seinen Knien. Weit gekommen ist er damit nicht. Der Vater wurde wegen unerlaubten Waffenbesitzes ins Gefängnis gesteckt – vom Sohn wollte er danach nichts mehr wissen.

Aber Gundermann dachte immer noch, er könne die Welt verändern. Er ging zur Offiziershochschule – wieder mit der Illusion von „Che Guevaras Partisanenarmee“. Doch der Alltag des angehenden Politoffiziers hatte damit nichts zu tun. Nach eineinhalb Jahren wurde Gundermann entlassen, weil er sich weigerte, ein Loblied auf den Verteidigungsminister anzustimmen. Solche Brüche hat er nie mit dem System verbunden, an seiner Überzeugung konnten sie nichts ändern: „Ich habe gemerkt, ich bin da falsch. Aber ich habe nicht angezweifelt, daß die NVA wichtig ist, ich habe es nie verallgemeinert.“ So war es auch 1984, als Gundermann aus der SED ausgeschlossen wurde. Nie hätte er den gesamten Apparat in Frage gestellt. „Wenn es diese Weltanschauung nicht geben würde, wäre ich irgendwann selbst darauf gekommen“, sagte er in jenem Film über den Kommunisums.

Damals, 1982, gehörte er schon das sechste Jahr zur „Firma“, wie er heute sagt, wenn er über seine Zeit als IM „Grigori“ redet. Irgendwann haben sie ihn gefragt, und Gundermann hat gesagt: „Klar, mach‘ ich mit“, wie immer, wenn es um „die Sache“ ging. Er hat jeden Tag treu das Land gewärmt, für Licht und Energie gesorgt, hat das Parteistatut so ernstgenommen wie sonst keiner, warum sollte er gerade in diesem Moment kneifen? Nichts paßt besser zur Konsequenz seines Lebens, und doch hatte niemand mehr damit gerechnet, als vor fast drei Jahren alles herauskam.

Wir sind schon unterwegs nach Görlitz zum Solokonzert im Gymnasium. Es ist der zweite Abend. Zaghaft fängt er an zu erzählen. Zuvor hatte Gundermann ab und zu schon gesagt, „nach der Enttarnung“ – wenn es um Zeiträume ging.

Praktisch für ihn, der sich Jahreszahlen sowieso nicht merken kann. „Ich hatte vieles vergessen“, antwortet er auf die Frage, warum er sich nicht viel früher geoutet hat. Er habe nicht mehr gewußt, wie unanständig und verwerflich seine Berichte waren. Ob er erst herausfinden wollte, wem er wirklich geschadet hat, frage ich. „Was heißt geschadet“, fährt Gundermann dazwischen. Das Wort paßt ihm nicht, das wischt er mit einer Handbewegung weg. Seine „Petzberichte“ haben ihm selbst einen Schauer über den Rücken gejagt, als die Stasi-Akten vor ihm lagen. Alexander Osang von der Berliner Zeitung schrieb damals, Gundermann gehe als „kleinkarierter, verbissener Wichtigtuer“ daraus hervor. Dagegen wehrt sich Gundermann nicht.

Er nimmt nichts zurück, versucht sich nicht in Ausreden, sagt nur: „Ich muß jetzt langsam aufhören zu reden, sonst kann ich heute abend nicht mehr singen.“

Gundermann ist drüber weg, er hat das Erdbeben überstanden. Ohne Pause hat er weitergespielt, und kein Stuhl blieb leer – entgegen aller Prophezeiungen über seinen Einbruch. Auch die Leute, die der Schock wütend und schweigsam gemacht hatte, reden wieder mit ihm. „Für mich war Sozialismus eben was“, sagt er dann doch noch einmal nach einer langen Pause, „und für andere eben nicht. Die haben ihn nur ausgenutzt.“ Gundermann verliert kein Wort über die letzten Jahre in der DDR, als dann er zum Opfer wurde, bespitzelt und behindert, mit Reise- und Auftrittsverboten. Aber er wäre nicht Gundermann, würde er die eine Geschichte so einfach mit der anderen zudecken.

In Görlitz warten fünfzig Leute zwischen vierzehn und siebzehn, manche auch älter. „Ich bin gespannt, was die von mir wollen“, wundert sich Gundermann.

So jung ist sein Publikum sonst nicht. „Ich weiß nicht, ob ich ihnen wirklich etwas abgeben kann, mit meiner Sicht auf die Dinge. Die leben doch in einer ganz anderen Welt.“ Und Gundermann singt meist von dieser verlorenen Welt, von einem abhanden gekommenen Land, von Abschied und Verlust. Kein anderer Liedermacher hat nach der Wende so genau beobachtet, was in den Seelen der Leute passiert ist. Gerade in den vergangenen Jahren schienen seine Lieder nur so aus ihm zu fließen, als sprudele er innerlich über davon. Mit ihnen reist er zurück in die alte Zeit, zu den verschwundenen Helden – und singt er dann von Lancelot und dem siebten Samurai, bekommen seine blassen Wangen diesen rötlichen Schimmer.

Ab und zu betritt Gundermann auch eine Westbühne: „Wer mich unbedingt haben will, zu dem komme ich auch.“ An seinen Liedern, seinem Programm würde er für niemanden etwas ändern. Deshalb will er sein Brot allein mit Arbeit verdienen und nicht mit der Kunst. So muß er sich von keinem abhängig machen. Wenn er erzählt, daß Karat mit Rex Gildo auftritt, daß sich viele ehemalige DDR-Künstler inzwischen für alles verkaufen, für Bierzelte und Möbelhauseröffnungen zum Beispiel, bekommt er ein zorniges Gesicht.

Gundermann ist längst keiner mehr, der leicht zu verführen ist.

Als seine Schwester nach der Wende nach Westdeutschland zog, hat er ihr ein Lied hinterhergeschickt: „Wie hältst Du das bloß aus, so abgeschnitten von zu Haus?“ Gundermann könnte sein schmales Reihenhaus in Spreetal nicht mehr verlassen. „Ich weiß nicht, was mich hier hält, ich kann es einfach nicht sagen – hier bin ich gebacken worden“, sagt er, und das muß als Antwort genügen. Am liebsten sitzt er im Sommer hinter dem Haus auf der Bank. „Ich bin kein Tier. Ich bin eine Pflanze. Ich brauch‘ keine Freiheit. Ich muß der Sonne nicht hinterherreisen, ich warte, bis sie vorbeikommt.“ Diese Antwort spult Gundermann inzwischen wie ein Tonband ab, wenn er nach Reise- und Abenteuerlust gefragt wird. Er überlegt kurz und fügt noch hinzu: „Ich würde gerne auf meine Reisefreiheit verzichten, wenn meine Kinder wieder eine Perspektive hätten.“

Der Rebell ist sanfter geworden. Nach der Wende hat er die alten Bücher in Kisten gepackt und an die leeren Stellen esoterische Weisheiten gestellt.

Gundermann ist Vegetarier, radikaler Ökologe, jeden Weihnachtsbaum pflanzt er wieder im Garten ein und überredet sich fast jeden Morgen dazu, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren, egal bei welchem Wetter. Und Gundermann stellt sich Aufgaben: Zusammenhänge will er begreifen, um Alternativen zu finden.

Seine Erkenntnisse will er leben, wenigstens im engsten Kreis – und für eine gesellschaftliche Wachheit will er auch noch sorgen. „Ich muß doch wenigstens dagegenhalten können, damit sich die anderen nicht ganz so breit machen.

Damit wir überhaupt noch eine Chance haben, etwas auszurichten.“ Manchmal erliegt aber sogar Gundermann der Faszination westlicher Möglichkeiten: Als er sich ein Auto gekauft hat, ging er mit jener blauen Blechtasse los, ohne die er zu keinem Auftritt reist. Die wichtigste Forderung an das neue Fahrzeug hieß, eine Halterung für genau diese Kaffeetasse zu besitzen. Und so fuhr er mit einem amerikanischen Modell, mit Halterungen für zwei Kaffeetassen, selig nach Hause

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